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5. September 2024

Zwei Perspektiven auf die Biodiversität

Im Vorfeld der Abstimmung zur Biodiversitätsinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» am 22. September 2024 wird rege über den aktuellen Stand der Biodiversität in der Schweiz und die notwendigen Schutzmassnahmen diskutiert. Damit ihr wisst, wie die Wissenschaft und der Schweizer Bauernverband dazu stehen, beantworten uns in diesem Blog zwei Expertinnen für Biodiversität einige Fragen. 

Vorweg: Mit wem sprechen wir? Und welche Organisationen vertreten sie? 

In diesem Blog sprechen wir mit zwei Expertinnen für Biodiversität, die uns das breite Spektrum an Meinungen rund um die Biodiversitätsinitiative aufzeigen. Wir stellen beiden die gleichen 3,5 Fragen und landen damit in einem 7-Fragen-Blog.

Zum einen sind wir im Gespräch mit Dr. Eva Spehn vom Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT). Die SCNAT ist eine unabhängige Organisation, die Naturwissenschaften fördert. Sie informiert zum wissenschaftlichen Konsens, d. h. über die Themen und Ansichten, in denen sich die Wissenschaften einig sind. Weiter verbindet SCNAT die Naturwissenschaften mit der Politik, der Verwaltung und der Öffentlichkeit, spricht sich jedoch nicht für oder gegen politische Initiativen aus.

Die zweite Gesprächspartnerin ist Diane Gossin vom Schweizer Bauernverband (SVB). Dort ist sie die stellvertretende Leiterin des Geschäftsbereichs Energie und Umwelt und die Fachverantwortliche für Biodiversität und Verkehr. Der Schweizer Bauernverband setzt sich generell für die Interessen der Schweizer Bauernfamilien ein. In der aktuellen Situation positioniert sich der SVB gegen die Annahme der Biodiversitätsinitiative.

Warum braucht es Biodiversität überhaupt?

Dr. Eva Spehn: «Wenn wir Biodiversität thematisieren, sprechen wir von der Vielfalt an Lebensräumen, Arten und Genvariationen. Die Biodiversität umfasst die Informationen der natürlichen Evolution von mehr als 3,5 Milliarden Jahren und ist die wichtigste Grundlage unserer menschlichen Existenz. Sie sichert zum Beispiel unsere Nahrung durch die Bestäubung von Pflanzen, liefert Rohstoffe für Medikamente und Kosmetika und schützt vor Pandemien. Mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung verdanken wir unmittelbar dieser Vielfalt. Biodiversität ist demzufolge unsere (Überlebens-)Versicherung für die derzeitigen und künftigen Generationen.» 

Diane Gossin: «Die Biodiversität (= Vielfalt des Lebens) ermöglicht es, mit Veränderungen wie neuen Krankheiten, Parasiten oder dem Klimawandel umzugehen und sich entsprechend anzupassen. Denn es gibt immer Individuen, die damit besser zurechtkommen – sie vermehren sich stärker und geben so diese Eigenschaften weiter. Die Erhaltung der Vielfalt ist somit auch eine Form der Zukunftssicherung.»

Wie steht es um die Biodiversität in der Schweiz? Spricht man bereits von einer Biodiversitätskrise? Oder ist alles halb so schlimm?

Diane Gossin: «Es ist nicht schwarz oder weiss. Wir hatten einen grossen Artenschwund nach dem zweiten Weltkrieg. Dank zahlreichen Massnahmen – nicht zuletzt in der Landwirtschaft – konnte der negative Trend gebremst werden, aber es bleiben noch Herausforderungen, die wir angehen müssen. Doch einfach mehr Fläche auszuscheiden, ist das falsche Rezept. Vielmehr müssen wir mit gezielten Massnahmen die Qualität aller vorhandenen Flächen verbessern, damit sie den bedrohten Pflanzen und Tieren auch wirklich nützen.»

Dr. Eva Spehn: «Ja, man kann durchaus von einer Biodiversitätskrise sprechen, sowohl in der Schweiz als auch weltweit gehen die Vielfalt der Arten, der Lebensräume und die genetische Vielfalt zurück. Aufgrund menschlicher Aktivitäten sterben zehn bis hundert Mal mehr Arten aus als natürlicherweise zu erwarten wäre. In der Folge werden unsere Ökosysteme eintönig, sie verlieren an Vielfalt: Diejenigen Arten, die schon oft vorkommen, treten noch häufiger auf. Währenddessen gehen seltene und spezialisierte Arten weiter zurück. In entsprechenden wissenschaftlichen Gutachten, die als Rote Listen bezeichnet werden, findet man detaillierte Infos zu gefährdeten Arten und Lebensräumen.» 

Wie schätzen Sie die Forderungen der Biodiversitätsinitiative ein? Sind sie umfassend und ausreichend? Oder gehen die Forderungen sogar eher zu weit?

Dr. Eva Spehn: «Klar ist, dass die Schweiz heute zu wenig in die Erhaltung und Förderung der Biodiversität investiert. Für Biotope von nationaler Bedeutung lässt sich diese unzureichende Finanzierung exemplarisch aufzeigen: Auch wenn die Ausgaben des Bundes im Bereich Natur und Landschaft seit 2017 zugenommen haben, reichen die finanziellen Mittel nicht einmal für die gesetzeskonforme Erhaltung der Biotope von nationaler Bedeutung (zum Beispiel Hochmoore, Auen, Amphibienlaichgebiete und Trockenwiesen). Dabei zeigen sämtliche verfügbare Studien, dass es langfristig günstiger ist, die Biodiversität zu schützen, als die Folgen einer beeinträchtigten Natur zu tragen. So müssen alle Sektoren (z. B. Verkehr, Land- und Forstwirtschaft, Energieproduktion, Siedlungsentwicklung, Tourismus) ihre negativen Auswirkungen auf die Biodiversität erkennen, möglichst vermeiden und minimieren.»

Diane Gossin: «Für den Schweizer Bauernverband geht die Initiative zu weit. Wir sagen «Ja» zur Biodiversität, aber «Nein» zu dieser Initiative. Sie ist viel zu extrem, indem sie die Schutzinteressen vor die Nutzungsinteressen stellen will. Sie will mehr Flächen für die Biodiversität und diese strenger schützen. Folgen wären grosse Einschränkungen für die landwirtschaftliche Produktion, aber auch für die Holzwirtschaft und die nachhaltige Stromproduktion. Wir gehen auch davon aus, dass die Initiative auch die Bauwirtschaft und den Tourismus betreffen wird.»

In welchem Verhältnis stehen in der Schweiz Biodiversität, Ernährungssicherheit und Landnutzung?

Diane Gossin: «Für die Nachhaltigkeit müssen wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt werden. In der Schweiz, wo der Druck auf das Land sehr hoch ist, weil sich vieles im Talgebiet (Verkehrsinfrastrukturen, Siedlungsräume usw.) konzentriert, muss alles gut ausbalanciert werden. Diese Initiative würde der Biodiversität Priorität einräumen. Aber alles, was wir in der Schweiz nicht produzieren, wird im Ausland produziert, meist mit tieferen Standards. Das ist kein Gewinn für die Biodiversität.»

Dr. Eva Spehn: «Damit unter anderem die Herstellung von Nahrungsmitteln gelingen kann, braucht es unter anderem eine gesunde Biodiversität. Dies verfolgt zum Beispiel die regenerative Landwirtschaft: Dabei können lokal pro Hektar gegebenenfalls nur noch geringere Mengen produziert werden. Jedoch muss diese Form der Landwirtschaft insgesamt nicht weniger produktiv sein, vor allem, wenn die längerfristige Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und der genetischen Ressourcen miteinbezogen werden. Die Produktion von Nahrungsmitteln und der Erhalt der Biodiversität bedingen sich gegenseitig und müssen Hand in Hand gehen.  

Allerdings ist innerhalb der Schweiz der Lebensmittelhandel der Sektor mit dem grössten globalen ökologischen Fussabdruck: Die Auswirkungen dieses Sektors auf die Biodiversität sind fast vollständig mit der Landwirtschaft verbunden. Der Verlust der Biodiversität kann nur dann erfolgreich gestoppt oder gar umgekehrt werden, wenn wir unsere aktuellen Landwirtschafts- und Ernährungssysteme verändern: Die Schonung der Ressourcen muss hier ins Zentrum rücken.» 

Was nun?

Jetzt kennt ihr zwei verschiedene Perspektiven auf den Stand der Biodiversität und die entsprechende Initiative. Dies hilft euch hoffentlich bei der Abstimmung am 22. September 2024 eine informierte Entscheidung für oder gegen die Biodiversitätsinitiative zu treffen.

Erstellt von Judith Boll