23. September 2020
Massvolle Zuwanderung: Gewünschte Selbstbestimmung vs. Bruch mit der EU
Begrenzungsinitiative oder Kündigungsinitiative? Allein schon die Namensgebung in der Debatte um die Vorlage zeigt, dass sich hier die Gemüter spalten. Ebenso hitzig ging es im Discuss it Abstimmungspodium am Kollegium St. Fidelis in Stans zu und her. An der hochkarätigen Diskussion nahmen zwei Ständeräte und zwei Nationalräte teil. Die Runde brachte zahlreiche Pro- und Contra-Argumente hervor, auf Basis welcher sich die Schüler_innen ihre eigene Meinung bilden konnten.
Das Abstimmungspodium in Stans war nicht nur durch äusserst hochkarätige Politiker_innen geprägt, sondern war gleichzeitig auch das erste Discuss it-Podium in Nidwalden. Das Team Zentralschweiz organisierte die Diskussion für rund 80 Schüler_innen der 4. Klasse des Langzeitgymnasiums. Die 16- bis 17-jährigen Jugendlichen erwartete eine emotionale Debatte zur Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung».
«Die Politik braucht euch Jugendliche»
Das Podium, moderiert von Discuss it-Vorstandsmitglied David Fischer, wurde vom Ständeratspräsidenten Hans Stöckli (SP, BE) eröffnet. Bevor die Runde für die Debatten rund um die Abstimmungsvorlage eröffnet wurde, richtete er sich mit einer engagierten Rede an die Schüler_innen.
Stöckli habe es sich zum Ziel gemacht, während seines Amtsjahres das Engagement und die Beteiligung von Jugendlichen an der Schweizer Politik zu fördern. Auch er habe jung begonnen und findet rückblickend: «Meinungen ändern sich über die Jahre hinweg. Und trotzdem zählt jede einzelne davon.» In jungen Jahren hielt er den Ständerat für überflüssig, so Stöckli schmunzelnd. Dies habe sich mittlerweile offensichtlich geändert, fügt der jetzige Ständeratspräsident hinzu.
Die Ansprache von Hans Stöckli legte die Grundlage für die anschliessende Diskussion zur Begrenzungsinitiative. Die Schüler_innen sollen sich eine Meinung bilden. Und das taten sie auch.
«Ihr würdet ja auch nicht einfach eure Haustüre aushängen und alle reinlassen»
So beginnt Peter Keller, Nationalrat der SVP Kanton Nidwalden, seine Argumentation für die Initiative. Mitzubestimmen, wer und vor allem wie viele Personen in unser Land einwandern, sei essentiell. Mithilfe von Vergleichen richtet sich Keller an die Schüler_innen. Die Einwanderungszahlen seit 2007 könne man sich wie folgt vorstellen: Ganze 25 Mal sei der Kanton Nidwalden in die Schweiz gepflanzt worden.
Parteikollegin Monika Rüegger, Nationalrätin der SVP Kanton Obwalden, setzt am gleichen Punkt an: «Unsere Landesgrenzen werden nicht mehr grösser. Aber die Bevölkerungszahlen explodieren weiter. Wie viel verträgt unser Land? Unsere Strassen? Unsere Umwelt?», fragt Rüegger die Schüler_innen.
Antwort erhält sie jedoch umgehend von Hans Stöckli. Wie denn die grünen Parteien zu diesem Thema stünden, fragt er. Solche vom Initiativkomitee eingeführten Argumente in Bezug auf die Umwelt würden ja nicht einmal von den Parteien gestützt, die den Umweltschutz im Parteiprogramm stehen haben. Ausserdem, fügt der SP-Politiker an, sei die Zuwanderung aus der EU in den letzten Jahren gesunken. Wenn man schon für eine massvolle Einwanderung argumentieren möchte, sollte man vor allem Drittstaaten thematisieren – also Staaten, welche weder der EU, noch den EFTA-Staaten (Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein) angehören.
«Setzt den Wohlstand in der Schweiz nicht auf’s Spiel!»
Dank der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU könne unser Land auf dem europäischen Markt mitspielen, erklärt Ständerat Hans Wicki (FDP Kanton Nidwalden). Dieser Markt sei um ein vielfaches grösser als der Schweizer Markt alleine und der Zugang dazu würde durch die Kündigung der Personenfreizügigkeit riskiert werden. Damit reisst Wicki die Diskussion um die bilateralen Verträge an. Genau der Diskussionspunkt, welcher eigentlich im Zentrum der umstrittenen Initiative steht: die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU.
Die einseitige Kündigung der Personenfreizügigkeit zöge aufgrund der Guillotine-Klausel die Kündigung der anderen sechs Verträge der Bilateralen I mit sich. «Durch diese Kündigungsinitiative werden die flankierenden Massnahmen…», beginnt Stöckli, wird jedoch direkt von Moderator David unterbrochen. «Kann mir denn jemand erklären, was die flankierenden Massnahmen sind?» Ein Blick in die Gesichter der Schüler_innen genügt: Die Diskussion rund um die Verträge ist kompliziert.
«Die flankierenden Massnahmen sind einfach erklärt etwa so: Als ob die EU uns den Arm brechen würde, den dann verbinden würde, und abschliessend sagen würde, wie gut sie sich doch um uns sorgen», wirft Nationalrat Keller ein. Diese Aussage führt nicht nur im Publikum, sondern auch auf der Bühne zu Raunen, woraufhin die Politiker_innen alle gleichzeitig das Wort ergreifen. Es wird schwierig, den Argumenten zu folgen. Der Moderator bleibt bestimmt und unterbindet die Diskussion, bis die Hintergründe der Initiative für die Schüler offengelegt werden. Schliesslich fasst Hans Wicki die Verträge kurz zusammen und David erklärt weiter, dass man es hier also mit Arbeitnehmerschutz zu tun hat. Die Annahme der Begrenzungsinitiative würde – wenn man der Argumentation Stöcklis folgt – also die Kündigung dieses Schutzes riskieren.
«Die EU profitiert massiv von der Schweiz»
Auf dieses Stimmenwirrwarr ergreift Rüegger das Wort und betont die Vorteile der Schweiz. Vielen sei nicht bewusst, dass die EU-Mitgliedsstaaten auch von der Schweiz profitieren. Als Beispiel nennt die SVP-Politikerin die Universitäten: «Wir haben top Unis und gerade deshalb haben wir jährlich unglaublich viele ausländische Studierende an unseren Universitäten.» Sie glaube nicht, dass die EU alle Verträge gleichzeitig künden und so die Schweiz aussen vor lassen würde. Die Schweiz sei dafür zu wichtig.
Das sei eine absolute Illusion, kontert Ständeratspräsident Stöckli. «Schaut euch den Brexit an. Schaut, wie hart die EU da verhandelt. Lasst euch nicht von der Illusion, dass mit der Schweiz weniger hart als mit Grossbritannien umgegangen wird, täuschen.» Mit der Annahme dieser Initiative bestimme man nicht nur über die Ausländer_innen, sondern auch über die Schweizer_innen selbst, fügt Stöckli hinzu. Man müsse hier an die Auslandschweizer denken, an die Forschung, und vor allem wichtig für die Schüler_innen: an die Studierenden, welche im Ausland studieren wollen. All dies stehe hier auf dem Spiel.
Laut Keller seien genau diese Aussagen jedoch reine Angstmacherei. Im Jahre 2002, vor der Personenfreizügigkeit, hätten wir all diese Freiheiten auch schon gehabt. Es hätten auch damals schon Studierende an ausländischen Universitäten studiert. Kopfschüttelnd fügt er hinzu: «Das wäre ja, als ob ihr euren Handyvertrag künden würdet und somit dann automatisch auch euer Mietvertrag, euer Ehevertrag und so weiter und so fort gekündigt würden. Das kann’s ja nicht sein.»
Bilde dir deine eigene Meinung!
Genau diese Aussage wird im Anschluss an die Debatte von einer Schülerin wieder aufgegriffen: «Ist dieser Vergleich nicht etwas weit hergeholt?», konfrontiert sie den SVP-Nationalrat. Keller bleibt seiner Aussage zwar treu, doch die kritische Frage der Schülerin prophezeit die allgemeine Stimmungslage unter den Schüler_innen im Raum: Die Argumente der Vertreter_innen der Initiative konnten die rund 80 Schüler_innen nicht genügend überzeugen. Nur zwei sprachen sich in der abschliessenden Abstimmung für die Begrenzungsinitiative aus.
Wofür du dich schliesslich entscheidest ist allein dir überlassen. Wichtig ist, dass du dich genügend informierst und dein Abstimmungsrecht nutzt. Discuss it hat für dich hier alle Abstimmungsvorlagen zusammengefasst. Und: nicht aufschieben! Kommenden Sonntag wird bereits abgestimmt. Du hast also noch rund vier Tage Zeit, die Unterlagen auszufüllen und diese in den Briefkasten deiner Gemeinde zu werfen. Oder du stimmst direkt am Sonntag an der Urne ab. Unsicher wie das genau geht? Eine kurze Erklärung bietet ch.ch hier.
Erstellt von Xenia Müller