Die Corona-Krise war ein echter Härtetest für Schulen in der ganzen Schweiz. Die Schliessung aller Bildungseinrichtungen, das damit verbundene Aussetzen des Präsenzunterrichts, die Umstellung auf Fernunterricht und digitale Lehre – es waren massive Umbrüche in kürzester Zeit. Seit Montag sind alle Schulen wieder offen: nach den Primarschulen ab 11. Mai nun auch Mittel- und Berufsschulen.
Doch vieles ist noch unklar. Welche Hygieneregeln gelten im Schulzimmer? Wie wird die Chancengleichheit zwischen den Schüler_innen gewährleistet? Und wie sieht der Unterricht nach dem Corona-Lockdown aus? Hier sind die Lehrpersonen gefordert. Discuss it sprach mit Franziska Roth (Nationalrätin SP SO und Heilpädagogin), Simon Stadler (Nationalrat CVP UR und ehem. Primarlehrer) und Reto Jakob (Grosser Gemeinderat SVP Steffisburg (BE) und Schulleiter) über die neue «Normalität» in den Schweizer Schulen.
Es war eine riesige Überraschung für Schüler_innen, Eltern und Lehrpersonen. Am 13. März beschloss der Bundesrat per Notverordnung, alle Schweizer Bildungseinrichtungen zu schliessen. Von einem Tag auf den anderen wurde der Präsenzunterricht eingestellt. Ein Entscheid mit weitreichenden Folgen: Unterricht im Homeoffice statt im Schulzimmer, am Computer statt an der Wandtafel, alleine statt im Klassenverband. Und vor allem: ohne direkte Betreuung durch Lehrerinnen und Lehrer.
Als am 11. Mai zuerst die Primarschulen den Betrieb wieder aufnahmen, mischten sich Erleichterung und Vorfreude mit Bedenken und Kritik. Erleichterung und Vorfreude, weil der Heimunterricht für viele Schüler_innen und deren berufstätige Eltern eine grosse Herausforderung darstellte und sich die Kinder daraufhin freuten, Kamerad_innen und Lehrpersonen wiederzusehen. Doch auch Bedenken und Kritik, weil die Durchsetzung von Schutz- und Hygieneregeln unklar und teilweise gar unmöglich schien. Die Schüler_innen und Lehrpersonen würden als Versuchskaninchen missbraucht; die Regeln seien unklar oder nicht praktikabel; es gebe keine einheitlichen Lösungen – dies waren oft geäusserte Bedenken zur Schulöffnung am 11. Mai.
Flickenteppich statt einheitliche Massnahmen
Tatsächlich erwies sich der Entscheid des Bundesrates, auf landesweit gültige Schutzkonzepte und Regeln im Schulbetrieb zu verzichten, als grosser Kritikpunkt. Zwar legte der Bundesrat allgemeine Hygiene- und Abstandsregeln fest, doch die konkrete Umsetzung der Massnahmen wurde in die Hände von Kantonen und Gemeinden gelegt. Sie sollten selbst bestimmen, ob der Unterricht in Halb- oder Ganzklassen oder gar im Fernunterricht weitergeführt wird. Ebenso überliess der Bund den Kantonen eine wichtige Entscheidung, welche die Mittelschulen betrifft: und zwar die Durchführung von Abschlussprüfungen (Lehrabschluss, Maturität). Dies wurde vielfach als grobes Versäumnis taxiert: In manchen Kantonen finden gar keine Abschlussprüfungen statt, in anderen nur die schriftlichen und in einigen sogar alle Prüfungen. Dies hat zur Folge, dass die Schweiz einem Flickenteppich gleicht: Jeder Kanton oder sogar jede Gemeinde hat ihre eigenen Regelungen. Ein Grundprinzip des Schweizerischen Föderalismus, das nun teilweise harsche Kritik erntet.
Der Schulalltag wird digital
Ob in Halbklassen oder in Ganzklassen, ob ständig oder «wann immer möglich» mit zwei Metern Abstand: Seit Montag, dem 8. Juni, sind nicht nur die Primar-, sondern auch Mittel- und Berufsschulen wieder offen (ausser in den Kantonen BL, LU, ZG, SZ und TI). Dies war für Discuss it der geeignete Anlass, um mit Bildungspolitiker_innen über die Schule während Corona zu sprechen. Was bedeuten die turbulenten Zeiten für Schweizer Lehrpersonen? Was taten sie, um ihre Schüler_innen aus der Ferne bestmöglich zu betreuen? Und welche Veränderungen im Schulalltag werden nach Corona bleiben? Antworten geben Franziska Roth (Nationalrätin SP SO und Heilpädagogin), Simon Stadler (Nationalrat CVP UR und ehem. Primarlehrer) und Reto Jakob (Grosser Gemeinderat SVP Steffisburg (BE) und Schulleiter).
Es war die wohl grösste Veränderung im Schulalltag: die Verlagerung der gesamten Betreuung in den digitalen Raum. Heilpädagogin Franziska Roth benennt die Herausforderung: «Der Stoff blieb derselbe, aber die Beziehung zu den Schüler_innen hat sich massiv verändert.» Das sei für alle Beteiligten – die Kinder, die Eltern und sie selbst – schwierig gewesen. Schulleiter Reto Jakob bestätigt, dass die komplett neue Situation viele Sorgen hervorgerufen hat. «Zuerst war ich natürlich besorgt, ich hatte so etwas noch nie erlebt.» Doch bald hätten die positiven Eindrücke überwogen. Lehrpersonen, Eltern und Schüler_innen hätten gut reagiert: «Man war sehr flexibel, hat improvisiert und Dinge ausprobiert, die ich nicht für möglich gehalten hätte.»
«Unser Beruf ist kein Zuckerschlecken»
Der ehemalige Primarlehrer Simon Stadler pflichtet dem bei. Er glaubt, dass die Corona-Zeit alle Generationen inklusive derjenigen der Kinder prägen wird: «Es ist nicht so toll, wenn man nicht in die Schule kann. Das haben auch Kinder gemerkt, die sonst nicht gerne zur Schule gehen.» Dies helfe dem Bildungssystem und dem Berufsstand der Lehrpersonen, welche nicht mehr überall dieselbe Anerkennung geniessen würden wie früher. Dasselbe sagt auch Franziska Roth: «Man hat gemerkt, dass wir Lehrpersonen nicht bloss «Ferientechniker_innen» sind und dass unser Beruf kein Zuckerschlecken ist.» Es sei schön, diese Wertschätzung zu spüren, findet Roth.
Besondere Situationen erfordern besondere Leistungen. Dies galt sowohl für die Schüler_innen, die beim Lernen zu Hause selbständiger arbeiten mussten, als auch für die Lehrerpersonen, welche trotz Fernunterricht gewährleisten mussten, dass möglichst alle den Stoff beherrschen. Wie sich Corona dabei auf die Chancengleichheit ausgewirkt hat? Reto Jakob glaubt nicht, dass die zwei Monate Fernunterricht einen Einfluss auf die gesamte Schulkarriere hätten. «Die Lücke ist zu klein, als dass riesige Auswirkungen entstehen könnten.» Dabei unterscheidet der SVP-Gemeinderat jedoch zwischen Lernstoff und sozialen Aspekten. Lernstoff lasse sich gut aufbereiten, doch soziale Schwierigkeiten – etwa, wenn ein Kind in der Zeit oft alleine gewesen sei – würden ihm Sorgen bereiten. Auch CVP-Nationalrat Stadler findet, die Anpassungen des Unterrichts seien nicht negativ ins Gewicht gefallen: «Die Unterstützung der Eltern war sehr gut. Mit den Kindern, die Probleme hatten, ist man individuell zusammengesessen.»
Mehr Chancengleichheit dank Digitalisierung?
Franziska Roth hat hier andere Erfahrungen gemacht. «Bei uns gab es viele Kinder oder Jugendliche, die weder Tablet noch einen eigenen Laptop zu Hause hatten.» Die SP-Nationalrätin ist sich sicher: «Die Chancen von Kindern, die zu Hause nicht den nötigen Support hatten, haben im Vergleich zu anderen Kindern gelitten.» Man müsse für die Kinder mit bildungsfernem Hintergrund mehr unterstützende Massnahmen ergreifen, damit die Chancengleichheit gewährleistet ist – beispielsweise mehr heilpädagogische Unterstützung und Mentor_innen bereitstellen, wie auch für eine bessere technische Ausrüstung sorgen. Auch Simon Stadler sieht bei der digitalen Ausrüstung Handlungsbedarf. «Für die IT-Ausrüstung müssen von Bund und Kantonen finanzielle Mittel bereitgestellt werden.» Es solle nicht von der Finanzstärke der Gemeinden abhängen, ob in der Schule Geräte vorhanden sind oder nicht, so Stadler.
«Keine Angst vor der Digitalisierung»
Die Pandemie hat in der Schule zu einer Art Digitalisierungsschub geführt – da sind sich die drei Politiker_innen einig. Doch ist dies eine nachhaltige Veränderung oder bloss eine aus der Not geborene kurzfristige Umstellung? Schulleiter Reto Jakob beobachtet, dass der Trend zur Nutzung der digitalen Plattformen bereits wieder abklingt: «Ich erlebe momentan, dass diese links liegen gelassen werden – vielleicht eine Gegenreaktion.» Es sei wichtig, die guten Elemente der Digitalisierung beizubehalten und weiterzuentwickeln, vor allem in den Oberstufen. Jedoch stellt Jakob klar, dass der digitale Aspekt nicht ausschlaggebend sei für guten und chancengleichen Unterricht. Simon Stadler ergänzt, dass viele Lehrpersonen gar zum ersten Mal das wirkliche Potenzial der digitalen Mittel entdeckt hätten. «Dies kann aber nur nachhaltig werden, wenn die Schulen mitmachen, Weiterbildungen anbieten und Grundsätze festlegen, wie künftig an der Schule gearbeitet werden soll.» Franziska Roth betont, dass Projekte zur Einführung von digitalen Geräten schon in der Primarschule gut funktionieren würden. Sie fügt an: «Ich habe keine Angst vor der Digitalisierung, weil Unterricht und Pädagogik immer Beziehungsarbeit sind. Uns Lehrpersonen braucht es auch in Zukunft.»
Alle Aussagen von Franziska Roth, Simon Stadler und Reto Jakob findest du im Video über diesem Blogbeitrag.
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