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30. September 2020

«Ein grosser Tag für die direkte Demokratie»

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (SP) unterstrich am Sonntag in der Medienkonferenz des Bundesrats, dass dieser Tag für unsere direkte Demokratie ein guter Tag sei, da wir Schweizer_innen endlich wieder an die Urne gehen konnten. Nachdem im Mai die geplanten Abstimmungen Corona-bedingt verschoben werden mussten, kamen am vergangenen Sonntag gleich fünf nationale Vorlagen vors Volk. Welche Entscheide sind deutlich, welche knapp ausgefallen? Welche nächsten Schritte stehen in den einzelnen Themenfeldern nun an?

Die letzten Monate waren hierzulande meist von diesem einen Thema geprägt: dem Corona-Virus. Wie mit der neuen Gefahr umzugehen ist und bestmöglich eingedämmt werden kann, bestimmte lange die Diskussionen, nicht nur diejenigen in Bundesbern. Während die Schweizer Bevölkerung im Mai nicht an die Urnen strömen konnte und sich seit den letztjährigen Abstimmungen somit weitere vier Monate in Geduld üben musste, wurden schweizweit sowie auch kantonal unterschiedliche Corona-Schutzmassnahmen beschlossen.

Die Gesichtsmaske gehört mittlerweile zum selbstverständlichen Bekleidungsstück und wie wir unsere Hände richtig zu waschen haben, weiss nun auch jeder Mensch. Neben den gut eingehaltenen Bestimmungen, die an die Eigenverantwortung appellieren, wurden aber auch einschneidendere Beschlüsse gefällt. Die vorübergehende Schliessung verschiedener Geschäfte sowie das langanhaltende Grossveranstaltungsverbot sind nur zwei Beispiele aus einer langen Liste von weitreichenden Massnahmen.

Fünfthöchste Stimmbeteiligung seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971

In den letzten Wochen gab es vermehrt Kundgebungen, bei denen die «Bevormundung» seitens des Bundes angeklagt wurde. Wie wichtig und schätzenswert das Recht auf Mitbestimmung ist, wurde vielen Menschen in der Schweiz während dieser Krisenzeit bewusst. Es darf wohl davon ausgegangen werden, dass die Schweizer_innen nach langem Stillsitzen froh waren, dass sie mit ihrer Wahlstimme ihrer Meinung Gewicht geben und Gehör verschaffen konnten. So ist wohl zu einem gewissen Grad die erfreulich hohe Stimmbeteiligung an diesem Wahlsonntag mit der verhältnismässig langen Abstimmungspause zu erklären.

Im Schnitt über alle fünf Vorlagen haben 59.35% aller Stimmberechtigten abgestimmt. Im Vorfeld hat man darüber debattiert, ob die Anzahl der Vorlagen zu inhaltlichen Verwässerung Einzelner führen könnte. Die Frage war gross, wie die Politiker_innen mit den Wähler_innen in Kontakt treten können. Aufgrund der Corona-Situation wurden nämlich viel weniger Podien und sonstige Live-Events abgehalten, an welchen über die Abstimmungsvorlagen hätte diskutiert werden können. In Social Distancing-Zeiten ist die Mobilisierung im Netz von grossem Wert und war wohl entscheidend, dass trotz Corona die Menschen über die fünf verschiedenen Themen so stark sensibilisiert werden konnten. 

Mobilisierung in den Städten

Lukas Golder, Co-Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern, äusserte sich am Sonntag im Abstimmungsstudio des SRF überrascht über die hohe Mobilmachung und die zum Teil unerwartet knappen Ergebnisse. Es hätten sich Menschen für die fünf Vorlagen interessiert, die bereits das neue elektorale Muster der Parlamentswahlen 2019 geprägt hätten. Die Städte würden eine erhöhte Mobilisierung aufweisen; allgemein sei laut ihm «jünger, grüner und liberaler abgestimmt worden». Seitens der SVP hätte man das Schweizer Volk mit ihrem bewährten Themenkreis rund um die Einwanderung nicht mehr abholen können. Für Erwin Schmid, Bundeshausredaktor von SRF, hat wohl auch der Mix der Vorlagen die Mobilisierung auf der Linken Seite begünstigt. Da der Abstimmungskampf bei der Begrenzungsinitiative schon früh entschieden und für die SVP verloren gegolten habe, sei auf der Rechten Seite die Luft schon bald verpufft gewesen und die Mobilmachung ihrerseits deswegen schlechter verlaufen. Doch wofür hat sich das Schweizer Volk mit dem «bunteren» Abstimmungsverhalten entschieden?

Erfolg zweier fakultativer Referenden

In der letztjährigen Legislatur (2015-2019) waren von elf fakultativen Referenden bloss zwei Stück erfolgreich (USR III und die AHV2020-Reform) – in allen anderen Fällen wurden die Behördenvorlagen vom Volk angenommen. An diesem Wahlsonntag waren von den fünf nationalen Vorlagen vier fakultative Referenden – und prompt hatten zwei davon Erfolg. Das neue Jagdgesetz wie auch die Änderung der direkten Bundessteuer wurden vom Volk abgelehnt. Es setzte also zwei Behördenniederlagen ab – nach nur zwei Abstimmungen also bereits gleich viele, wie in der ganzen letzten Legislatur zusammen.

Die Volksinitiative Für eine massvolle Zuwanderung sowie die Änderung der direkten Bundessteuer wurden mit einem Nein-Votum von über 60% klar abgelehnt. Mit rund 60% Ja-Stimmenanteil wurde hingegen der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub klar angenommen. Auf welche Seite jedoch das Entscheidungspendel bei dem neuen Jagdgesetz und der Kampfflugzeugbeschaffung ausschlagen würde, war an diesem Sonntag sehr lange nicht klar. In beiden Fällen gab es eine äusserst knappe Entscheidung. Das neue Jagdgesetz wurde mit 51.93% Nein-Stimmen abgelehnt, während die Kampfflugzeugbeschaffung mit 50.14% Ja-Stimmen gutgeheissen wurde. Bereits im Vorfeld war beim neuen Jagdgesetz damit zu rechnen, dass es ein umstrittener Entscheid werden würde. Dass die Vorlage der Kampfflugzeugbeschaffung aber laut gfs.bern bis kurz vor 17 Uhr noch immer 50:50 tendenzlos in der Schwebe lag, darauf hätte wohl kaum jemand gewettet. Bloss 8’670 Stimmen machten am Ende den Unterschied aus.

Laut Urs Bieri, Co-Leiter und Mitglied des Verwaltungsrats von gfs.bern, ist gemäss der Nachwahlanalyse das knappe Ergebnis nicht auf das Kampfflugzeug an sich zurückzuführen, sondern auf die Mobilisierungskraft des Jagdgesetztes. Diese heiss diskutierte Vorlage habe seinen Aussagen zufolge emotionalisiert und mehr Wähler_innen in den Städten an die Urne gelockt. Durch diese Mobilisierung der Städter_innen, die erfahrungsgemäss eher links wählen, sei wohl auch bei allen anderen Vorlagen eher nach Vorlieben der links-grünen Seite abgestimmt worden. Discuss it hat sich deshalb gefragt: Wie muss man dieses knappe Resultat und die zwei erfolgreichen Referenden beurteilen?

Referendum – eine erstarkte Macht

Dass allein an diesem Abstimmungssonntag gleich zwei fakultative Referenden Erfolg hatten, so viel wie in der gesamten vorherigen Legislatur, spricht eine deutliche Sprache. Während der Bundesrat und das Parlament in der 50. Legislaturperiode scheinbar ohne grossen Widerstand vom Volk regieren konnten, sieht es nun so aus, als würden es die Behördenvorlagen laut Lukas Golder in den kommenden Jahren nicht mehr so leicht haben. Die Opposition sowie die generelle Macht verschiedener organisationsfähiger Gruppen (wie die GSoA, Opteration Libero etc.) scheinen deutlich stärker geworden zu sein. Zudem hätten gemäss Golder vor allem auch die Umweltverbände eine grössere Bedeutung im Abstimmungskampf erhalten. Es wird sehr interessant sein, wie sich dieses Erstarken auf die kommenden Abstimmungen auswirken wird und wie die Behörden mit dieser neuen Herausforderung umgehen werden.

Wie weiter nach der Abstimmung?

Letzten Sonntag wurden fünf Entscheidungen gefällt. Doch wie geht es nun weiter? Wird die Diskussion um die Abstimmungsthemen denn überhaupt fortgeführt oder ist sie in diesen fünf Themenfeldern vorerst abgeschlossen?

Die bundesrätliche Medienkonferenz, die «Elefantenrunde» im Abstimmungsstudio und die Stimmen in den letzten Stunden zeichnen ein Bild, wie nun weitergearbeitet werden soll.

Neuverhandlungen, weitergehende Forderungen und Wahlanalyse

Bei den Kinderabzügen hat die Schweizer Bevölkerung der Regierung eine klare Abfuhr erteilt. Dass die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf verbessert werden soll, ist ein Anliegen, dass nun mit einem neuen Umsetzungsplan mehrheitsfähig gemacht werden muss. Eine Einigung scheint möglich zu sein. So klagte Petra Gössi (FDP) in der «Elefantenrunde» die CVP an, die Vorlage zu stark aufgeblasen zu haben. Die FDP sei nämlich durchaus für die Drittbetreuungskosten gewesen, die eigentlich keinesfalls umstritten sind und deren Verwirklichung angestrebt werden soll.

Wie haben die Parteispitzen die Frage «Reichen die zwei Wochen Vaterschaftsurlaub?» im Abstimmungsstudio beantwortet? SVP, FDP und CVP äusserten sich mit einem klaren «Ja», die SP mit einem deutlichen «Nein». Eine Elternzeit-Initiative ist bereits angedacht und wird wohl schon bald ihre ersten Schritte nehmen. Bis die Schweizer Bevölkerung über eine solche Initiative abstimmen wird, vergeht noch viel Zeit. Die Initianten gehen von bis zu sieben Jahren aus.

Das neue Jagdgesetz hätte nicht nur die Abschüsse von verschiedenen Tierarten neu geregelt, sondern auch diverse neue Finanzierungsmittel verteilt. Allen ist wohl bewusst, dass das 34 Jahre alte Jagdgesetz einer Revision bedarf. Wie mit den stetig steigenden Wolfzahlen umgegangen wird, muss ebenfalls geklärt werden. Nun ist eine genaue Analyse gefragt, die zeigt, weshalb das Stimmvolk diesen parlamentarischen Vorschlag nicht genügend unterstützt hat und wie eine Mehrheit hinter sich gebracht werden kann. Das Gegenkomitee der Vorlage vom Sonntag hat hierfür klare Forderungen formuliert.

Wird es doch nicht zu neuen Kampfflugzeugen kommen?

An der Medienkonferenz des Bundesrats musste sich Viola Amherd (CVP) einer Vielzahl von Fragen seitens der Journalisten stellen. Bei keiner anderen Vorlage waren die Wortmeldungen so zahlreich und die Gesellschaft so gespalten. So haben nicht nur die Medienschaffenden, sondern auch die Politiker_innen mit vielen unterschiedlichen Reaktionen, Fragen und Äusserungen aufgewartet. 

Aufgrund des unerwartet knappen Ausgangs der Abstimmung, meldete sich Alt-Nationalrat Jo Lang (Alternative, Grüne) zu Wort und verkündete die Prüfung einer Express-Initiative. Sollte sich der Bundesrat von den vier zur Diskussion stehenden Fliegertypen für eines der beiden US-Modelle entscheiden, würde mit der Express-Initiative die Beschaffung erneut zu verhindern versucht werden. Bundesrätin Viola Amherd (CVP) äusserte sich in der Medienkonferenz bezüglich der Typen-Wahl deutlich. Nachdem das Schweizer Volk die Beschaffung abgesegnet habe, könne nun der Evaluationsprozess der vier Flugzeugmodelle gestartet werden. Auf deren Basis werden sich Parlament und Bundesrat entscheiden. Welche Gegenwehr zu erwarten ist, hängt vom zukünftigen Beschluss ab.

Wann kann das Rahmenabkommen unterschrieben werden?

Die Begrenzungsinitiative wurde mit klarer Mehrheit abgelehnt. Einem Aufkündigen der Personenfreizügigkeit ist man somit entgangen. Die angespannte Situation zwischen der Schweiz und der EU, die vor allem auf innenpolitische Uneinigkeiten in der Schweiz zurückzuführen sind, besteht jedoch nach wie vor. Seit 2018 liegt das ausgehandelte Rahmenabkommen unterschriftsbereit bei der Schweizer Bundesregierung. Wie mit der EU diesbezüglich zu verhandeln ist, bleibt jedoch ungewiss. Von Brüssel wurde der klare Volksentscheid der Schweizer Stimmbevölkerung am Sonntag gutgeheissen. Im gleichen Atemzug hielt Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, fest, dass die Unterzeichnung seitens des Bundesrats nun zügig vorangehen könne. Der Druck auf die Schweiz wurde nach der Abstimmung offensichtlich gleich wieder hoch gehalten.

Ein Telefonat zwischen Ursula von der Leyen und der Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (SP) fand bereits an diesem Montag statt. Es wurde bekannt, dass die EU sich für allfällige Präzisierungen im Rahmenabkommen offen zeigt. Wie gross der Spielraum dieser Präzisierung ist, wird sich zeigen. Das Problem besteht nämlich darin, dass laut Nachwahlanalyse von gfs.bern momentan keine klare Mehrheit für das jetzige Abkommen zustande kommen könne. Bundesrat und Parlament haben drei Punkte ausgemacht, die verbessert werden müssten: Der Lohnschutz darf nicht geschwächt, offene Fragen bezüglich der staatlichen Beihilfe müssen geklärt und die Unionsbürgerrecht-Richtlinien dürfen nicht übernommen werden. In einem Brief vom 14. August forderten die Sozialpartner von der Regierung, gar Neuverhandlungen mit der EU zu starten. Das Rahmenabkommen wird den Bundesrat in den kommenden Wochen oder gar Monaten auf eine harte Probe stellen.

Jede Stimme zählt!

Die hohe Stimmbeteiligung, die erstarkte Macht des Referendums und nicht zuletzt die wenigen Stimmen, welche zu einem sogenannten «Zufallsmehr» für die Kampfflugzeugbeschaffung führten, zeigen uns allen, wie gewichtig jede einzelne Stimme sein kann. Wir in der Schweiz haben das Privileg mitbestimmen zu können und unsere Zukunft mitzugestalten. Wir sollten diese Verantwortung auf alle Fälle übernehmen. Lasst uns auch zukünftig fleissig abstimmen gehen!

Erstellt von Manuel Bucher