5. Mai 2021
Du verstehst beim Rahmenabkommen nur Bahnhof? Wir helfen dir auf die Sprünge!
Seit Jahren verhandelt die Schweiz mit der Europäischen Union (EU) über ein Rahmenabkommen. Wir erklären dir, worum es dabei eigentlich geht, warum das überhaupt wichtig ist und weshalb sich die Schweiz mit dem Abkommen so schwer tut.
Das Rahmenabkommen ist in den Medien – wieder einmal. Nachdem Bundespräsident Guy Parmelin am 23. April der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klargemacht hat, dass die Schweiz das Abkommen in der jetzigen Form nicht unterzeichnen wird, diskutiert die ganze Polit-Schweiz darüber, wie es weitergehen soll. Du findest die Diskussion schwer verständlich und hochkompliziert? Glückwunsch: Du hast die Situation ums Rahmenabkommen schon sehr gut verstanden. Wir versuchen dir die wichtigsten Punkte dazu erklären.
Rahmenabkommen: Was ist das überhaupt?
Der offizielle Name des Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU ist «institutionelles Abkommen». Die Schweiz ist ja bekanntlich nicht EU-Mitglied und regelt ihre Verträge mit der EU bilateral. Mit dem neuen Abkommen sollen die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union erneuert werden. Dabei sollen die bestehenden bilateralen Verträge (seit 1999 und 2004 in Kraft) zusammengenommen und quasi unter ein Dach gebracht werden.
Ich komme schon nicht mehr mit: Die Schweiz hat ihre Beziehungen mit der EU ja eben schon in den Bilateralen Verträgen geregelt. Warum braucht es das Rahmenabkommen überhaupt?
Die EU wünscht sich, dass diese losen Verträge zu einem grossen Bündel zusammengeschnürt werden. Sie möchte künftig nicht in jedem Politikbereich, in dem die Schweiz und die EU zusammenarbeiten, einen neuen Vertrag aufsetzen müssen. Aus dem gleichen Grund möchte die EU zukünftige Verträge auch stärker institutionalisieren oder anders gesagt: Sie möchte diese mehr in einen politischen Rahmen einpassen. Deshalb auch der Name “Rahmenabkommen”.
Wie könnte denn ein solcher Rahmen aussehen?
Zwei Sachen sind der EU wichtig. Erstens will sie die dynamische Rechtsübernahme. Ändert sich in einem Vertrag zwischen der EU und der Schweiz am EU-Recht etwas, das diesen Vertrag tangiert, soll die Schweiz diese Änderungen automatisch übernehmen. Was aber passiert, wenn sich die Schweiz und die EU in einem Punkt in die Haare geraten? Dann soll ein Schiedsgericht den Streit schlichten. Das ist der zweite zentrale Punkt für die EU.
Und was sagt die Schweiz dazu?
Grundsätzlich hat sich die Schweiz immer für das Rahmenabkommen stark gemacht. Schliesslich war das Rahmenabkommen auch ihre Idee. Der Ständerat hat es 2002 erstmals ins Spiel gebracht und seit 2008 verhandelt der Bundesrat mit der EU.
Seit 2008?! Wie kann das so lange dauern?
Das fragt sich die EU zunehmend auch. Es gibt aber durchaus gute Gründe dafür. Nach Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative der SVP im Jahr 2014 wollte die EU zunächst nichts mehr von einem Rahmenabkommen wissen. Das gleiche passierte 2019 bei der Begrenzungsinitiative – nur dass es dieses Mal die Schweiz war, die sich zurückzog. Im Kern ging es beide Male um das Gleiche: Beide Parteien befürchteten, dass mit Annahme der jeweiligen Initiative die bilateralen Beziehungen gesamthaft scheitern würden. Im September 2020 wurde die Begrenzungsinitiative mit über 60 Prozent der Stimmen vom Schweizer Volk abgelehnt. Seit dann verhandelt die Schweiz auch wieder mit der EU.
Dann ist eine Unterzeichnung des Abkommens jetzt nur noch Formsache?
Keinesfalls. Denn im 35 Seiten dicken Abkommen gibt es drei Punkte, die die Schweiz nicht akzeptieren will. Sie betreffen den Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie der EU und die staatlichen Beihilfen.
Wait, what? Jetzt verstehe ich schon wieder nichts mehr!
Gehen wir der Reihe nach:
- Zuerst zum Lohnschutz. Die Schweiz versucht seit 2004, die heimischen Arbeitnehmenden vor Niedriglöhnen zu schützen. Ausländische Firmen, die in der Schweiz einen Auftrag erledigen wollen, müssen sich deshalb acht Tage im Voraus anmelden und eine Kaution hinterlegen. Zudem stimmen sie zu, dass die Schweiz Löhne und Arbeitsbedingungen kontrollieren kann. Die EU findet, dass die Schweiz die EU-Firmen damit schikaniert. Sie hat diese bestehenden Massnahmen (man spricht auch von den flankierenden Massnahmen) deshalb im Rahmenabkommen deutlich abgeschwächt. Gewerkschaften und Linke bekämpfen das, weil sie befürchten, dass zum Beispiel Bauarbeiter_innen, Reinigungskräfte oder Serviceangestellte noch weniger verdienen würden, als sie das ohnehin schon tun.
- Die Unionsbürgerrichtlinie verlangt, dass EU-Bürger_innen überall in Europa die gleichen Rechte besitzen. Das bedeutet konkret: Ausländer_innen sollen den gleichen Zugang zu Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe erhalten wie Schweizer_innen. Die Schweiz knüpft das bislang aber an die Bedingung, dass Auländer_innen in der Schweiz arbeiten oder sich mindestens fünf Jahre in der Schweiz aufgehalten haben. Bürgerliche Politiker_innen wollen an diesem Grundsatz nicht rütteln – und lehnen die Unionsbürgerrichtlinie deshalb ab.
- Bei den staatlichen Beihilfen geht es darum, dass es die EU nicht mehr akzeptiert, dass Staaten Firmen direkt finanziell unterstützen. Ein Beispiel: Viele Kantone haben ihren Kantonalbanken umfassende Staatsgarantien abgegeben für den Fall, dass diese in finanzielle Schräglage geraten sollten. Das wäre gemäss EU nicht mehr erlaubt – es wären unerlaubte staatliche Beihilfen. Unklar ist, was mit dem Schweizer Steuerwettbewerb geschieht. Viele Kantone erlauben umfassende Steuererleichterungen für Grossfirmen und Vermögende, um für diese attraktiv zu sein. Das ist der EU schon lange ein Dorn im Auge.
Puh. Die Linken sind gegen das Abkommen, weil sie um den Lohnschutz fürchten, die Bürgerlichen sind gegen die Unionsbürgerrichtlinie, die Kantone gegen die staatlichen Beihilfen. Sieht düster aus.
Und das ist noch nicht alles. Die SVP lehnt das Abkommen rundheraus ab, selbst wenn sich in den drei Punkten noch was tun sollte. Denn für sie verliert Schweiz durch die dynamische Rechtsübernahme und das neu geschaffene Schiedsgericht ihre Souveränität. Vielleicht hast du schon mal vom «Knebelvertrag» oder den «fremden Richtern» gehört? Das sind die Worte der SVP zum Rahmenabkommen, die einen Abbruch der Verhandlungen fordert.
Sag mal, gibt es auch Befürworter_innen des Abkommens?
Ja, die Grünliberalen würden den Vertrag so unterzeichnen, wie er ist. Auch innerhalb der SP und der FDP gibt es zumindest einige Politiker:innen, welche das jetzt vorliegende Rahmenabkommen unterstützen.
Aha. Hilft das dem Abkommen weiter?
Nicht wirklich. Die EU drängt weiterhin auf eine Unterzeichnung des Abkommens, wie es seit Ende 2018 schon vorliegt. Bundespräsident Guy Parmelin hat bei seinem Besuch in Brüssel am 23. April hingegen klar gemacht, dass es für die Schweiz immer noch «fundamentale Differenzen» gibt. Und Aussenminister Ignazio Cassis sagte in einem Interview: «Ohne wichtige Bewegung der EU ist das Abkommen nicht reif für eine Unterschrift».
Wie reagiert die EU darauf?
Sie ist wütend auf die Schweiz – und lässt die Muskeln spielen. Sie hat die Schweiz kurzfristig aus dem Forschungsprogramm «Horizon Europe» ausgeschlossen. Dieses ist wichtig, damit Schweizer Unis mit anderen Hochschulen in Europa zusammenarbeiten können und Forschungsgelder der EU erhalten.
Und die Schweiz lässt sich das einfach so gefallen?
Nein. Das Schweizer Parlament hat der EU eine Retourkutsche gegeben und entschieden, einen Betrag in der Höhe von einer Milliarde Franken an die EU nicht zu bezahlen. Diese wäre den EU-Oststaaten zugute gekommen.
Wie geht es nun weiter?
Das ist nicht mal den Fachleuten klar. Jedenfalls hat das Parlament den Bundesrat damit beauftragt, die Verhandlungen weiterzuführen.
Gut zusammenfassen lässt sich die Situation vielleicht mit einem Treffen, das bereits über sechs Jahre her ist. Die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga traf auf den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, um über das Rahmenabkommen zu diskutieren. Juncker warb dabei für das Abkommen – durchaus auch mit Mitteln, die von vielen als unangebracht empfunden wurden.
Und die Schweiz so:
Die Lage beim Rahmenabkommen bleibt also zumindest eines – kompliziert mit offenem Ausgang.
Erstellt von Reto Heimann