7. April 2021
Dorfbeizen in der Krise
2017 verzeichnete GastroSuisse einen Rückgang von über 850 Restaurants in der Schweiz. Ausbleibende Gäste, weniger Umsatz und fehlende Nachfolger_innen führen besonders in ländlichen Gebieten dazu, dass traditionsreiche Dorfbeizen schliessen müssen. Oftmals sind genau diese Restaurants aber der letzte öffentliche Ort in einem Dorf, an dem sich die Bevölkerung noch treffen kann. Was bedeutet es also für eine Gemeinde und ihre Einwohner_innen, wenn die Dorfbeiz schliessen muss?
Restaurants zählen in den Sozialwissenschaften zu den sogenannten «dritten Orten». Sie unterscheiden sich damit von dem Wohnort («erste Orte») und dem Arbeitsort («zweite Orte»), indem sie der Freizeitgestaltung dienen und eine Zuflucht von Wohnen und Arbeiten bieten. Dritte Orte sind ausserdem Räume, in denen die Gesellschaft interagieren kann und der Kontakt zwischen Individuen aus verschiedenen sozialen Gruppen gefördert wird.
In den Städten gibt es viele verschiedene Restaurants und Bars, die Menschen aus einem grossen Einzugsgebiet anziehen. Die Städter_innen probieren gerne neue Restaurants aus und haben nicht unbedingt eine «Stammbeiz», was in den Lokalen zu einer eher anonymen, kosmopolitischen Atmosphäre führt. Auf dem Land hingegen ist das Ambiente in den Dorfbeizen oftmals familiär. Da es auf dem Land nur eine kleine Auswahl an Restaurants gibt, trifft sich die Bevölkerung immer wieder in denselben Lokalen. Das führt dazu, dass sich die Gäste untereinander kennen und auch mit den Angestellten der Dorfbeiz bekannt sind. Restaurants auf dem Land erfüllen deshalb ganz andere Funktionen als in der Stadt und sind längst nicht nur ein Ort der Verpflegung, sondern auch der sozialen Begegnungen und der Identifikation.
Soziales Kapital beim Feierabendbier
Die erste zentrale Funktion von Dorfbeizen ist der soziale Austausch. Beim Feierabendbier, der wöchentlichen Jass-Runde oder nach dem Training mit dem Turnverein trifft man in Dorfbeizen Nachbar_innen, Freund_innen und schliesst neue Bekanntschaften. Diese sozialen Beziehungen haben einen Wert, der sich mit dem Begriff «Sozialkapital» zusammenfassen lässt. Denn ein grosses soziales Netzwerk macht nicht nur glücklicher und zufriedener mit dem eigenen Leben, es hat auch praktischen und gar ökonomischen Nutzen. Bei einem Umzug kann man sich beispielsweise anstatt eine teure Firma zu engagieren gratis durch Freunde helfen lassen. Ausserdem besteht das soziale Kapital auch aus Vertrauen, zivilgesellschaftlichen Engagement und Normen wie Toleranz oder Reziprozität. All das kann man in Dorfbeizen üben: Durch regelmässigen Kontakt mit den anderen Gästen lernt man das eigene Dorf kennen, man fasst Vertrauen zu den anderen Einwohner_innen und lernt, einen Gefallen zurückzugeben. Wird man beispielsweise auf ein Bier eingeladen, so gibt man selbst die nächste Runde aus.
Soziales Kapital hat aber nicht nur für eine einzelne Person Vorteile, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes; es ist der soziale Kitt, der eine Gemeinschaft zusammenhält. Gemeinden mit mehr Sozialkapital profitieren beispielsweise von tieferen Gesundheitskosten und weniger Kriminalität. Muss eine Dorfbeiz schliessen, gehen die positiven Effekte des dort gesammelten Sozialkapitals im Laufe der Zeit verloren. Die Beziehungen unter den Einwohner_innen werden schwächer oder gehen ganz verloren, das soziale Netzwerk der einzelnen Personen schrumpft und es gibt einen Ort weniger, an dem Vertrauen, Toleranz und Reziprozität gelernt werden können. All das schadet einem Dorf, denn seine Gemeinschaft droht ohne Sozialkapital auseinanderzubrechen.
Diskussion und Meinungsbildung in der Dorfbeiz
In der Forschung zum Sozialkapital wird generell zwischen verbindendem und Brücken schlagendem sozialem Kapital unterschieden. Ersteres beschreibt dabei soziales Kapital, das zwischen Mitgliedern derselben sozioökonomischen Gruppen gebildet wird, zweiteres beschreibt soziales Kapital zwischen Menschen verschiedener Gruppen, die normalerweise durch grosse Kluften voneinander getrennt werden. In einer Dorfbeiz kommen typischerweise beide Arten von sozialem Kapital vor. So können die Mitglieder eines Vereins, die nach dem gemeinsamen Turnen oder Singen noch etwas trinken gehen, ganz unterschiedlich sein und nur durch ihr gemeinsames Hobby verbunden werden. Vier Freunde, die regelmässig zusammen jassen, sind sich dafür möglicherweise relativ ähnlich und kommen aus derselben sozioökonomischen Gruppe.
Natürlich werden in solchen Dorfbeizen auch politische Meinungen diskutiert und Ansichten ausgetauscht. Je nachdem, ob das in gleichen oder unterschiedlichen Gruppen geschieht, können solche Diskussionen aber ganz verschieden ablaufen. In Gruppen mit ganz unterschiedlichen Mitgliedern führt eine politische Diskussion dazu, dass sich die Meinungen der diskutierenden Personen annähern und eine Kompromisslösung gefunden wird (siehe hier und hier). Zudem kann durch Diskussionen mit Menschen anderer Meinungen neues Wissen erlernt werden, das zum Überdenken der eigenen Meinung führt (siehe hier).
In homogenen Gruppen hingegen kann die Diskussion politischer Themen dazu führen, dass sich die Mitglieder in ihnen ohnehin schon gleichen Meinungen weiter hochschaukeln und radikalisieren (siehe hier und hier). Gerade extreme politische Einstellungen wie Links- und Rechtspopulismus sind durch ein starkes Gruppendenken zwischen der Eigen- und der Fremdgruppe geprägt (siehe hier und hier). Durch Diskussionen mit politisch Gleichgesinnten und das Hochschaukeln der eigenen Meinung kann es zu radikalem, sogar populistischem Denken kommen.
Die Dorfbeiz als Identität
Doch eine Dorfbeiz ist nicht nur eine Plattform für die Bindung von Menschen untereinander. Vielmehr können die Menschen auch zur ihr als Ort eine Bindung eingehen. Die Dorfbeiz bekommt eine Bedeutung als Treffpunkt für Vereine oder als «Stammkneipe» und positive Gefühle werden mit ihr assoziiert. Das führt dazu, dass die Gäste regelmässig wiederkehren und sich mit der Dorfbeiz identifizieren. Sie sehen sich als Teil einer unsichtbaren Gemeinschaft, die durch das Lokal zusammengehalten wird und zu der sie selbst dazugehören. Dorfbeizen haben also auch eine identitätsstiftende Funktion.
Im Laufe der Zeit entstehen in einer Dorfbeiz Rituale, Gewohnheiten und Traditionen; sie entwickelt eine eigene Kultur. Muss die Dorfbeiz nun schliessen, wird dadurch nicht nur der Ort selbst bedroht, sondern auch seine Kultur und damit ein Teil der kulturellen Identität seiner Gäste. Die Gäste können sich durch die Schliessung ihres Stammlokals marginalisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Schliessung der Dorfbeiz gibt ihnen das Gefühl, dass die dort entstandene Kultur, aber auch sie selbst als Gäste in der Gesellschaft keinen Platz mehr haben (siehe auch die Local Socio-Cultural Degradation Theory). Sie verlieren nicht nur einen Ort, an dem sie ihr Sozialkapital pflegen können, sondern auch einen Teil ihrer Identität und somit einen Teil von sich selbst.
Ohne Dorfbeiz zum Populismus
Das Gefühl, sozial isoliert zu sein und mit der eigenen kulturellen Identität am Rand der Gesellschaft zu stehen, erweckt bei vielen Menschen den Wunsch, in eine neue Gemeinschaft integriert zu werden, wo sie wieder soziales Kapital sammeln und sich eine neue Identität aufbauen können. In einem Dorf ohne öffentliche Treffpunkte wie Läden, Kirchen oder eine Dorfbeiz ist das aber schwierig. Deshalb suchen diese Menschen alternative Gemeinschaften als die lokale, zu denen sie nicht unbedingt geografisch, sondern durch ihre Ideologie gehören.
So hat eine Studie aus Grossbritannien herausgefunden, dass Menschen in ländlichen Gemeinden mit mehr Pub-Schliessungen eher dazu neigen, die UK Independence Party (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs, kurz UKIP) zu wählen. Die UKIP ist eine rechtspopulistische Partei, die für ihre EU-Skepsis und Islamophobie bekannt ist. Populistische Strömungen bieten den Menschen aus Gemeinden mit vielen Pub-Schliessungen dabei eine neue quasi-Gemeinschaft, in der Sozialisierung möglich wird und die eine neue Identität stiftet; also genau das, was diese Menschen zusammen mit ihren Pubs verloren haben. Auf die Schweiz übertragen bedeutet das, dass die Schliessung von Dorfbeizen ebenfalls zu einem Aufschwung populistischer Strömungen führen könnte.
Corona und die Dorfbeizen
Seit über einem Jahr legt COVID-19 unser öffentliches Leben nun schon lahm und immer wieder liest man, dass besonders die Gastronomiebranche von den Folgen der Corona-Massnahmen stark betroffen ist. So hat die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich herausgefunden, dass über die Hälfte der Gastronomiebetriebe in der Schweiz ihre Existenz als stark oder sehr stark bedroht ansieht. Das zeigt sich auch in der Bilanz des vergangenen Jahres: Der Jahresumsatz der Schweizer Gastronomiebetriebe ist 2020 im Durchschnitt um gut einen Drittel eingebrochen, bei jedem dritten Betrieb sogar um über 50 Prozent.
Die Corona-Pandemie bedroht also längst nicht nur die Gesundheit und die Wirtschaft in der Schweiz, sondern indirekt auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn nach dem Lockdown einige Dorfbeizen ihre Pforten gar nicht mehr öffnen, so verlieren die Dörfer einen wichtigen Hort des sozialen Kapitals, das in Zeiten von Social Distancing, Homeoffice und Versammlungsverboten ohnehin schon gelitten hat. Im schlimmsten Fall kann dies zu einem Verlust des dörflichen Gemeinschaftsgefühls und zu einem Aufschwung populistischer Strömungen führen. Dabei sind es gerade die Solidarität und der Zusammenhalt in der Gesellschaft, die wir in diesen Zeiten am dringendsten benötigen würden.
Erstellt von Alina Zumbrunn