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8. Mai 2020

Die ausserordentliche Session als Wegbereiterin zur politischen Normalität

Am Mittwochabend ging die ausserordentliche Session zu Ende. Der National- und Ständerat tagten vom 4. bis zum 6. Mai in der BernExpo und traten nach sieben Wochen aus dem Schatten des Bundesrats – ein Schritt zurück zur gewohnten Demokratie.

Quelle Titelbild: https://www.easyvote.ch/de/aktuelles/ausserordentliche-session <Zugriff am 08.05.20>

Seit dem 16. März hat der Bundesrat, gestützt auf das Epidemiengesetz, eine Vielzahl an Verordnungen erlassen, deren Geltungsdauer auf sechs Monate befristet ist. Durch die Ausrufung der „ausserordentlichen Lage“ ist es der Exekutive erlaubt, selbstständig weitreichende Massnahmen für die ganze Schweiz zu beschliessen, was üblicherweise vom Parlament abgesegnet werden müsste.


Die Bedeutung des Parlaments in Zeiten der „ausserordentlichen Lage“


In der ersten Phase der Corona-Krise war der Bundesrat wohl das besser geeignete politische Organ, um mit schnellen Entscheidungen der Pandemie entgegenzutreten. Doch bereits am 23. März wurden die Ratsmitglieder von ihren Ratspräsidien auf die parallele Kompetenz des Parlaments zum Bundesrat hingewiesen. Laut Bundesverfassung können die Räte in „ausserordentlichen Umständen“ ebenfalls Notverordnungen erlassen – für die, im Gegensatz zu den bundesrätlichen Notverordnungen, keine Befristung vorgesehen ist. Mit dieser Notverordnungskompetenz der Bundesversammlung soll eine Kontroll- und Korrekturmöglichkeit gegenüber dem Bundesrat ausgeübt werden können. Parlamentarische Massnahmen stehen also über denen der siebenköpfigen Exekutive. Die beiden Räte haben aber von diesem Notverordnungsrecht keinen Gebrauch gemacht – wieso nicht?


Im selben Schreiben vom 23. März wurde den Räten mitgeteilt, dass der Bundesrat eine ausserordentliche Session einberufen lassen will, sodass das Parlament über die nachträgliche Genehmigung der gesprochenen Kredite abstimmen kann. Damit eine ausserordentliche Session einberufen werden konnte, musste mindestens ein Viertel der Mitglieder eines Rats nach einer solchen verlangen. Bereits am 26. März wurde die ausserordentliche Session auf Anfang Mai terminiert.


Bis zum 1. Mai wurden etliche Kommissionsvorstösse eingereicht, die vom Bundesrat beantwortet werden mussten, damit sie auf die Traktandenliste der ausserordentlichen Session gesetzt werden konnten. Die Zusicherung des Bundesrats, die Motionen – von beiden Räten abgesegnete Aufträge – der Bundesversammlung unverzüglich umzusetzen, war sicherlich ein Grund, warum das Notverordnungsrecht nicht ergriffen wurde. Der Bundesrat bat das Parlament mit an den Verhandlungstisch, ohne dass sich die Bundesversammlung mittels Notverordnungsrecht Gehör verschaffen musste – und damit wurde wohl ein Seilziehen zwischen Legislative und Exekutive verhindert.


Ausserordentliche Session an aussergewöhnlichem Schauplatz


Aufgrund der Hygiene- und Distanzvorschriften des Bundesamts für Gesundheit konnte die ausserordentliche Session nicht  wie üblich  in den ehrwürdigen Hallen des Bundeshauses stattfinden. Stattdessen wurde die BernExpo-Halle gemietet und für die beiden Räte hergerichtet. Genügend Abstand zwischen den Tischen und ständiges Desinfizieren der verschiedenen Rednerpulte stellten sicher, dass die langen Sitzungen ohne Ansteckungsrisiko durchgeführt werden konnten. Auch wenn keines der Parlamentsmitglieder seinen Platz suchen musste, da die Sitzordnung jener im Bundeshaus eins zu eins nachempfunden wurde, gab es einige Schwierigkeiten zu verzeichnen. So erachteten einige Parlamentarier_innen die Arbeit in der BernExpo als schwierig.


Vor Beginn der ausserordentlichen Session sorgte beispielsweise die fehlende Abstimmungstransparenz im Ständerat für Aufsehen. Da technische Schwierigkeiten bestanden, eine Anzeigetafel zu installieren, die das Abstimmungsverhalten der einzelnen Ständerät_innen offenlegte, wollte man im Geheimen abstimmen. Auf Antrag von Ständerat Daniel Jositsch wurde schliesslich auf die altbewährte Abstimmungsmethode des Aufstehens zurückgegriffen.


Lob, Kritik und drängende Entscheide


Zu Beginn der Session wurde der Bundesrat von allen Seiten für sein verantwortungsvolles und umsichtiges Handeln in der Krise gelobt. Kritik an dessen Vorgehen  folgte erst, als der Lockerungsfahrplan bezüglich der einschneidenden Massnahmen des Bundesrats thematisiert wurde. Zudem monierten einige Parlamentarier_innen, dass sie nun nur dank des löblichen Entgegenkommens seitens des Bundesrats so schnell Einfluss auf die Massnahmen nehmen könnten. Man müsse dementsprechend für kommende Krisenzeiten genauere Bestimmungen ausarbeiten, wie das Parlament standardmässig in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden kann.


In erster Linie galt es, die bereits vom Bundesrat gesprochenen Kredite abzusegnen. Das rund 57 Milliarden Franken schwere Kreditpaket – eine historisch einmalig hohe Summe – wurde von der Bundesversammlung ohne Kürzung bewilligt. Mit zusätzlichen Motionen, die von beiden Räten angenommen wurden, sollen die Kitas mit 65 Millionen Franken und der Tourismus mit 40 Millionen Franken unterstützt werden. Kredite wurden für zahlreiche Bereiche gesprochen: Bürgschaften, Kurzarbeit, Erwerbsersatz, Sanitätsmaterial und Medikamente, Luftfahrt, Kultur, Sport, Kitas, Tourismus, Bevölkerungsschutz, die ausserordentliche Session und für Beihilfen für die Viehwirtschaft. Des Weiteren wurden die folgenden Themen diskutiert: Genehmigung des Einsatzes der Armee, Umgang mit Geschäftsmieten, Überbrückungshilfen für die Medien, Rückzahlungsdatum für Reisebüros, Contact-Tracing-App, die Frage der Lockerung der Massnahmen, Abschwächung der Ertragsausfälle im öffentlichen Verkehr, sowie die Aufstockung der Humanitären Hilfe.


Über Einigkeit und unvollendete Verhandlungen


Die Einigkeit des Parlaments variierte hierbei beträchtlich: Schnelle Übereinkünfte zwischen den beiden Räten gab es beispielsweise bei der Kreditbewilligung im Bereich von Sport, Kultur oder Erwerbsersatz. Weitaus umstrittener war die Frage nach einem allfälligen Dividenden-Ausschüttungsverbot, wenn ein Unternehmen gleichzeitig Kurzarbeit bezieht. Diese Forderung war das Ergebnis einer Motion der SP-Nationalrätin Mattea Meyer und war zuvor auch in den Kommissionen gutgeheissen worden. Während der Nationalrat einem solchen Verbot mit einer hauchdünnen Mehrheit von 93 zu 88 Stimmen zugestimmt hatte, wurde die Motion im Ständerat mit 31 zu 10 und einer Enthaltung deutlich abgelehnt. Die Furcht, dass ein allfälliges Dividendenverbot zu mehr Entlassungen führen könnte, bestimmte die Abstimmung im Ständerat und war einer der Hauptgründe, wieso dieses schliesslich verworfen wurde.


Nicht nur das gescheiterte Dividendenverbot stellte eine emotionale Streitfrage dar, sondern auch der Hilfskredit von 1,875 Milliarden Franken für die Luftfahrtbranche. In beiden Räten wurde der Kredit von den bürgerlichen Mehrheiten bewilligt. Die Linke versuchte den Hilfskredit mit zusätzlichen Umweltauflagen zu koppeln. Eine einzige Vorgabe wurde eingefügt; nämlich, dass den Klimazielen des Bundesrats gefolgt werden müsse. Da es sich bei diesem Entscheid um einen „einfachen Bundesbeschluss“ handelt und diese Erlassform der Bundesversammlung nicht dem Referendum unterliegt, wird es keine Weiterführung dieser Diskussion geben. Diese Tatsache störte insbesondere die Parlamentsmitglieder der Grünen Fraktion, welche die Kredite für die Fluggesellschaft generell kritisierten.


In der Frage des Gebrauchs einer Contact-Tracing-App haben beide Räte beschlossen, dass gesetzliche Rahmenbedingungen ausgearbeitet werden müssen. Sie haben sich aber grundsätzlich für die Einsetzung der App ausgesprochen. Eine solche App wird voraussichtlich frühestens im Juni verfügbar sein. Keine Einigung hingegen fand sich bei der Frage, wie man mit den Geschäftsmieten umgehen soll und ob diese Mieten den Unternehmen erlassen werden sollten. Ein zähes Verhandeln überschattete hierbei die Konsensfindung zwischen Stände- und Nationalrat. Der Nationalrat stimmte gegen einen teilweisen Mieterlass für kleinere Betriebe und der Ständerat seinerseits lehnte die Pauschallösungen des Nationalrates ab. Ein Kompromiss wird wohl erst in der Sommersession gefunden.


Hat sich die ausserordentliche Session gelohnt?


Neben den Milliarden-Beträgen zur Staatshilfe wurden auch 4,1 Millionen Franken zur Abhaltung der ausserordentlichen Session bewilligt. Die relativ kurzfristige Umsiedlung in die BernExpo hat einige Herausforderungen mit sich gebracht. Mit grossem Aufwand wurden die hygienischen Schutzmassnahmen des BAG eingehalten, was Gespräche während der Pausen erschwerte.


Fakt ist: Die beiden Räte mussten keinen Gebrauch vom Notverordnungsrecht machen, da das Parlament die gesprochenen Kredite des Bundesrates bewilligte und somit hinter der Arbeit des Bundesrats steht. Es wurden lediglich einzelne Korrekturen angebracht, die der Bundesrat nun unverzüglich umzusetzen versucht. Nachdem der Bundesrat in den Anfangszeiten der „ausserordentlichen Lage“ selbständig Massnahmen ergriff, ist mit der ausserordentlichen Session die Zeit angebrochen, in der die Exekutive und die Legislative wieder gemeinsam arbeiten und sich gegenseitig kontrollieren – eine langsame Rückkehr zur gewohnten Demokratie.

In welchem Verhältnis Bundesrat und Parlament zueinander stehen, erfährst du in unserem letzten Blog.

Erstellt von Manuel Bucher