20. April 2023
Das Schweizer Notrecht – die neue Normalität?
Was für Ausnahmesituationen gedacht war, fand in den letzten Jahren überdurchschnittlich häufig Anwendung und entfachte jüngst mit der Übernahme der Credit Suisse erneut eine Debatte über Sinn und Legitimität seines Einsatzes – die Rede ist vom Notrecht. In diesem Blogbeitrag erfährst du mehr über die Hintergründe sowie die aktuelle Thematik dieses Schweizer Gesetzes.
Was ist das Notrecht?
Obschon das Wort «Notrecht» aktuell in aller Munde ist, gibt es dieses im Schweizer Recht eigentlich gar nicht, was vermutlich dazu geführt hat, dass es immer wieder zu Kontroversen darüber kommt, wann es effektiv eingesetzt werden darf, kann, soll oder muss. Gemeint sind vielmehr Notverordnungen oder Notverfügungen, welche die Regierung erlassen kann, wenn sich die Schweiz in einem eingetretenen oder drohenden Ausnahmezustand befindet. Beispielsweise kann «Notrecht» bei terroristischen Bedrohungen, Naturkatastrophen oder Epidemien eingesetzt werden.
Unter solchen Umständen hat der Bundesrat dann das Recht (Bundesverfassung Art. 173(c), Art. 184(3), Art. 185(3), Art. 7(d)), die geltenden demokratischen Prozesse der Gesetzgebung (z.B. Anhörung durch das Parlament oder Abstimmungen durch die Bevölkerung) zu umgehen und entsprechende Massnahmen zu beschliessen, um zeitnah die Existenz des Schweizer Staates zu sichern. Würde man in solchen dringenden Notsituationen z.B. die Bevölkerung abstimmen lassen, wäre dies viel zu zeitintensiv und die Funktionsfähigkeit der Schweiz könnte womöglich nicht gewährleistet werden. Notverordnungen werden vom Bundesrat und nicht vom Parlament in Kraft gesetzt, weil dieser aufgrund der kleineren Anzahl Personen fähiger ist, innert kürzester Frist zusammenzukommen und schnelle Lösungen zu finden. Diese Notverordnungen bleiben dann ein halbes Jahr bestehen, erst anschliessend bedürfen sie der Absegnung durch das Parlament. Dies nennt man daher auch die «Gesetzgebung der Dringlichkeit». Es bringt jedoch die demokratietheoretische Problematik mit sich, dass Parlament und Stimmbevölkerung Macht entzogen wird, indem der Bundesrat allein die Entscheide fällt.
Wann wurde das Notrecht in der Vergangenheit angewendet?
Bisher fand das Notrecht schon mehrfach Anwendung in der Schweiz. So etwa während der beiden Weltkriege, als der Bundesrat jahrelang eine Vollmacht innehatte, «zur Bewahrung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz und zur Wahrung […] der wirtschaftlichen Interessen des Landes» (s. hier). Nach Ende des 2. Weltkriegs wurde die Vollmacht des Bundesrats erst 1952 aufgehoben, als sich die Bevölkerung mittels Volksinitiative für die Rückkehr zur direkten Demokratie einsetzte (mehr dazu siehe hier).
Auch während der globalen Finanzkrise 2008 kam das Notrecht zum Einsatz. Damals hatte die UBS so starke Geldprobleme, dass ihr Untergang womöglich nicht nur die Schweiz, sondern auch andere Banken weltweit in den finanziellen Ruin mitgerissen hätte, was zu einer Weltwirtschaftskrise beispiellosen Ausmasses geführt hätte. Weil die UBS also systemrelevant («too big to fail» – zu gross zum Scheitern) war, musste der Bundesrat notfallmässig Gelder zur Verfügung stellen, um die Bank zu retten. Ein weiteres aktuelles Beispiel betrifft die Coronapandemie, während der zahlreiche Notverordnungen erlassen wurden. Dies dürfte wohl massgeblich zur aktuellen Debatte über den Gebrauch des Notrechts beigetragen haben. Der Bundesrat musste damals aufgrund der Problematik in zahlreiche öffentliche Bereiche eingreifen (z.B. Fristenstillstand bei Volksabstimmungen, Erwerbsausfall oder Maturitätsprüfungen). Das Parlament hatte hier später die Möglichkeit, die durch den Bundesrat getroffenen Massnahmen abzusegnen bzw. zu korrigieren, um ihren längerfristigen Einsatz zu legitimieren (den Blogartikel zur entsprechenden Abstimmung findest du hier).
Aktuelle Debatte
Aufgrund der CS-Übernahme durch die UBS ist das Wort Notrecht aktuell so populär wie schon lange nicht mehr: Innerhalb der letzten fünf Jahre wurde der Begriff nur mit Einführung der Corona-Massnahmen im März 2020 häufiger gegoogelt als zuletzt. Die hierzu entfachte Debatte folgte der Frage, ob der Bundesrat das Recht dazu hatte, eigenständig und ohne Einwilligung der Aktionär:innen (sprich: der Geldgebenden und somit Miteigentümer:innen der CS, welche nun finanziell geschädigt werden) diese Übernahme zu genehmigen. Da es sich bei der CS wie 2008 auch bei der UBS um eine systemrelevante Bank handelt, ist ein Eingreifen des Bundes definitiv gerechtfertigt – trotzdem bleibt vorerst offen, in welchem Rahmen dies gemäss Schweizer Recht legitim war bzw. ist und welche Konsequenzen dieser erneute Einsatz von Notrecht politisch, wirtschaftlich aber auch gesellschaftlich nach sich ziehen wird.
Unabhängig davon lief bis Ende März 2023 die Sammlung von Unterschriften einer Zürcher Standesinitiative, welche verlangt hätte, dass inskünftig auch Notverordnungen angefochten werden können. Das Bundesgericht hätte bei der Einreichung von Beschwerden gegen eine solche Notverordnung drei Monate Zeit gehabt, um zu prüfen, ob es sich tatsächlich um den notwendigen Einsatz von Notrecht gehandelt habe. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so hätte es die Notverordnung gesamthaft aufheben können. Die Initiative kam jedoch nicht zustande, weil nicht genügend Unterschriften gesammelt werden konnten. Nun wird sie als Petition statt als Initiative beim Bundesparlament eingereicht. Ob diesem Anliegen in Anbetracht der aktuellen CS-Situation mehr Aufmerksamkeit zukommen wird als während der Sammelphase für Unterschriften, bleibt abzuwarten.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Bundesverfassung zu ändern, u.a. mittels Volks- und Standesinitiativen. Bei einer Volksinitiative hat z.B. die Bevölkerung das Recht, innert 18 Monaten 100’000 Unterschriften von stimmberechtigten Personen zu sammeln, um über ein Anliegen abstimmen zu lassen. Erklärt das Parlament die Initiative für gültig, gibt es eine Stellungnahme dazu ab und kann die Vorlage anschliessend mit oder ohne (in-)direktem Gegenvorschlag an die Urne bringen. Zur Annahme benötigt es sowohl das Volks- als auch das Ständemehr (doppeltes Mehr).
Bei einer Standesinitiative hingegen kann ein Kanton (= ein Stand) vorschlagen, dass sich das Parlament mit einer Thematik befassen soll. Nach einer erfolgreichen Vorprüfung befasst sich zuerst eine Kommission des National- oder Ständerats damit und gibt eine Empfehlung für den entsprechenden Rat ab. Anschliessend befasst sich die zweite Kommission sowie der zweite der beiden Räte damit. Stimmen beide Räte der Vorlage zu, erarbeitet eine zuständige Kommission innert zwei Jahren eine Vorlage aus. Hier kannst du mehr zum detaillierten Ablauf einer Standesinitiative lesen.
Erstellt von Sophie Ruprecht