5. Januar 2021
Corona-Konflikte: Wo die Ethik an ihre Grenzen stösst
Die Corona-Pandemie stellt Individuen wie auch die Politik vor viele ethische Fragen. Welche Einschränkungen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens sind gerechtfertigt, um Ansteckungen zu verhindern? Discuss it beschreibt fünf drängende ethische Konflikte in der Corona-Krise.
Stellen wir uns die folgende Situation vor: In einem Spital werden zwei Personen gleichzeitig auf der Notaufnahme eingeliefert. Doch nur eine Ärztin ist verfügbar. Sie steht vor der Entscheidung: Wem soll ich zuerst Hilfe leisten? Sie muss verschiedene Faktoren gegeneinander abwägen, etwa bei wem eine Intervention dringender nötig ist und wer die besseren Heilungschancen hat. Dann muss sie eine Entscheidung fällen. Einer der beiden Personen wird sie helfen können, doch bei der anderen Person bleibt die Hilfeleistung zumindest vorläufig aus.
Diese Priorisierung der medizinischen Hilfeleistung bei knappen Ressourcen heisst Triage. Die Triage-Situation ist ein typisches Beispiel für einen ethischen Konflikt. Dabei geht es um eine moralisch relevante Situation, in der mehrere Handlungsoptionen zur Auswahl stehen, von denen keine eindeutig zu bevorzugen ist. Es gibt nicht eine richtige und eine falsche Handlung, sondern allenfalls eine, die besser (oder weniger falsch) ist als die andere. Verschiedene moralische Überlegungen, Rechte und Pflichten müssen gegeneinander abgewogen werden. Je nach Gewichtung und Priorisierung der einzelnen Aspekte sind unterschiedliche Resultate bzw. moralische Urteile möglich.
Solche ethischen Konflikte stellen sich nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der politischen Ebene. Verschiedene Interessen und Aspekte – gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale – müssen gegeneinander abgewogen werden und fliessen in den politischen Entscheidungsprozess ein. Eine ethische Beurteilung von politischen Beschlüssen kann deshalb selten schwarz-weiss ausfallen, sondern liegt irgendwo dazwischen.
Dies wird in der Corona-Pandemie besonders deutlich sichtbar. Die Corona-Massnahmen werden teils wöchentlich aktualisiert, und durch die Unterschiede zwischen den Kantonen ergibt sich ein veritabler Massnahmen-Flickenteppich. Dies ist jedoch nicht nur auf die dynamische Entwicklung der Ausgangslage zurückzuführen, sondern auch auf deren ändernde Bewertung. Hier kommt die Ethik ins Spiel: Corona stellt die Politik vor viele ethische Konflikte. Discuss it nimmt dies zum Anlass, um fünf ethische Konflikte im Zusammenhang mit der Corona-Krise zu beleuchten.
1. Unsichere Wissensbasis vs. die Notwendigkeit, schnell zu handeln
Die Wissenschaft stützt sich auf Fakten. Über SARS-CoV-2, wie das neue Coronavirus offiziell bezeichnet wird, sind jedoch viele Fakten noch nicht bekannt. Die Forschungslage ist zwar schon viel besser als im Frühling 2020, als die Politik Schutzmassnahmen treffen musste, ohne sich auf viele wissenschaftliche Befunde zu deren effektiver Wirksamkeit abstützen zu können. Auch heute ist immer noch vieles unbekannt in Bezug auf die Immunisierung, Impfstoffe und mögliche Mutationen. Dies bringt die politischen Entscheidungsträger_innen immer wieder in eine ethische Konfliktsituation. Es stellen sich die Fragen: Ist es richtig, einschneidende Massnahmen zu verordnen, ohne sich über deren effektive Wirksamkeit im Klaren zu sein? Wer verantwortet diese Entscheidungen? Aber auch: Ist es richtig, mit Massnahmen zuzuwarten und möglicherweise entstehenden Schaden in Kauf zu nehmen, bis wir mehr über das Virus wissen? Es gibt keine eindeutig richtige Antwort auf diese Fragen. In den politischen Entscheiden wird meist versucht, einen Kompromiss zu finden zwischen der Zurückhaltung aufgrund unsicherer Wissensbasis und der Notwendigkeit, schnell zu handeln.
2. Einschränkung der Wirtschaft vs. mehr Ansteckungen und Todesfälle
Viele Firmen und Betriebe, etwa in der Gastronomie- und Tourismusbranche, werden durch die Corona-Massnahmen massiv eingeschränkt. Sie müssen aufwändige Schutzkonzepte umsetzen, hohe Verluste verkraften und manchmal gar Leute entlassen. Die angespannte Wirtschaftslage schlägt sich auch im Wohlbefinden der Menschen nieder. Manche leiden unter Existenzängsten oder psychischen Problemen, welche durch die soziale Isolation oder berufliche Unsicherheiten ausgelöst werden. Es stellt sich die Frage: Wie stark soll die Wirtschaft eingeschränkt und negative Folgen in Kauf genommen werden, um Ansteckungen zu verhindern?
Auf der anderen Seite stellt sich das Problem: Mehr Menschen werden krank, brauchen Intensivpflege oder sterben, wenn das Virus nicht möglichst stark eingedämmt wird. Massive Einschränkungen der Wirtschaft sind ein probates Mittel, um Kontakte und damit Ansteckungen zu verhindern. Das kommt schlussendlich auch der Wirtschaft zugute, welche in einer langwierigen und schweren Pandemie-Situation schliesslich mehr leidet als durch kurzfristige, harte Massnahmen. Darauf weisen Daten aus verschiedenen Ländern hin.
Dennoch stellt sich hier nicht nur ein ethischer Konflikt, sondern sogar ein ethisches Dilemma: Alle möglichen Optionen, auf die Pandemie-Situation zu reagieren, bringen ein moralisches Unrecht mit sich. Wenn die Wirtschaft weniger eingeschränkt wird und es zu mehr Ansteckungen kommt, werden mehr Menschen schwer krank oder sterben. Wenn jedoch die Wirtschaft über lange Zeit stark beschnitten wird, werden ebenfalls Existenzen zerstört. Welches Unrecht wiegt schwerer? Dies gilt es immer wieder neu abzuwägen.
3. Überlastung des Gesundheitssystems vs. allgemeiner Anspruch auf eine Behandlung
Wir befinden uns mitten in der zweiten Pandemie-Welle. Konstant hohe Ansteckungszahlen und Spitaleinweisungen sind zu verzeichnen. Im Vergleich zur Bevölkerungsgrösse weist die Schweiz eine der weltweit höchsten Todesraten auf. Viele Spitäler sind stark ausgelastet, das Pflegepersonal oftmals am Anschlag. Es kursieren Berichte, dass das ausgebrannte Personal Zwei- und Dreifachschichten schieben muss, um all die Corona-Patient_innen zu versorgen. Denn jede Person hat einen moralischen Anspruch auf medizinische Versorgung und Behandlung im Krankheitsfall. Um dieses Recht auf Behandlung sicherzustellen, werden aktuell hohe Kosten in Kauf genommen – grosse Einschränkungen der Wirtschaft, eine hohe Belastung des Gesundheitssystems und die Verschiebung von nicht akut notwendigen Operationen im Spital. Es stellt sich die ethische Frage: Ist es zulässig, diese hohen Kosten in Kauf zu nehmen, um genügend Corona-Behandlungsplätze in den Spitälern zu haben?
Die Folgen eines «Neins» auf diese Frage können dramatisch sein. Wenn sich die Situation weiter verschärft, kann es aufgrund mangelnden Platzes oder Ressourcen so weit kommen, dass in den Spitälern nicht mehr alle Menschen, die behandelt werden wollen, eine Behandlung bekommen. Dies war im Frühling 2020 etwa in Italien und Spanien der Fall. In einem solchen Extremfall kommt es zur Triage (wie zu Beginn des Artikels beschrieben), was teilweise eine Entscheidung über Leben oder Tod bedeutet. In der Schweiz gibt es allgemeingültige Richtlinien für die Triage. Diese werden vom Ethikrat der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) aufgestellt, um diskriminierende und unethische Entscheide zu verhindern. Doch es ist klar: Die Triage stellt das Gesundheitspersonal vor ein schlimmes ethisches Dilemma, und solche Entscheidungen über Leben und Tod müssen wenn immer möglich verhindert werden. Nicht zuletzt auch deswegen, weil dies für das Gesundheitspersonal schwere psychische Belastungen mit sich bringt.
4. Einschränkung der Grundrechte vs. Schutz des Lebens und der öffentlichen Gesundheit
Während der Corona-Pandemie sind die demokratischen Grundrechte teils stark eingeschränkt. Dies gilt insbesondere für die Versammlungsfreiheit: Menschenansammlungen sind verboten, um Kontakte und Ansteckungen zu verhindern. Viele Menschen, vor allem solche, die den Massnahmen sehr kritisch gegenüber stehen, sind der Meinung, dass dies nicht zulässig sei. In der Politik herrscht jedoch die Ansicht vor, dass eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit für eine bestimmte Zeit gerechtfertigt sei, weil damit die öffentliche Gesundheit geschützt und Leben gerettet werden können. Dieses ethische Urteil beruht auf einer höheren Gewichtung des Rechts auf Leben und Gesundheit gegenüber dem (temporär ausser Kraft gesetzten) Recht auf Versammlung. Zudem sind mit den neuen Massnahmen politische Demonstrationen ausdrücklich erlaubt, sofern sie bewilligt sind. Damit ist ein wichtiges demokratisches Grundrecht gewährleistet.
5. Globale Solidarität vs. nationalstaatliche Interessen (Beispiel Impfstoffverteilung)
Die Pandemie ist ihrer Definition zufolge ein globales Problem und verlangt deswegen eigentlich auch nach globalen Lösungen. Dennoch funktioniert die globale Solidarität und Kooperation nicht sehr gut: Oft liegt sie in Konflikt mit nationalstaatlichen Interessen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Impfstoffverteilung. Während westliche, industrialisierte Länder mit ihren Impfkampagnen begonnen haben, müssen Drittweltländer auf die Impfung warten. Zwar gibt es internationale Abkommen, die eine gerechte Impfstoffverteilung sichern sollen. Doch es lässt sich nicht wegdiskutieren: Während Impfstofftests in Südamerika durchgeführt wurden, um sie auf Nebenwirkungen zu prüfen, erhalten die westlichen Länder den Impfstoff zuerst, sobald er für sicher befunden wurde. Dies ist ethisch höchst fragwürdig. Einerseits wegen der Impfstofftest-Bedingungen in Südamerika: Für die Studienteilnahme wurden finanzielle Entschädigungen vergeben, wodurch die finanzielle Not der Bevölkerung ausgenutzt wurde. Andererseits ist die Art und Weise, wie die industrialisierten Länder die zugelassen Impfstoffe für sich monopolisieren, aus ethischer Perspektive scharf zu verurteilen. Damit wird impliziert, dass ein Leben in den industrialisierten Ländern mehr wert ist als eines in Entwicklungsländern.
Wie fällt dein moralisches Urteil aus?
Es gibt noch viele weitere ethische Fragen rund um Corona. Etwa, dass Corona als Thema Nummer 1 auf der politischen Agenda andere dringende Themen wie die Umweltpolitik aus dem Fokus verdrängt. Dies ist aus umweltethischer Perspektive bedenklich und kann in Zukunft hohe Kosten bedeuten. Ethische Fragen stellen sich auch rund um die in Corona-Zeiten geforderte Solidarität. Sollen beispielsweise Verstösse gegen die Solidarität (wie das Nicht-Tragen von Masken oder die Teilnahme an Partys) rechtlich bestraft werden?
Diese und weitere Fragen sind zu diskutieren. Auch auf der Ebene des individuellen Verhaltens stellen sich ethische Fragen. Ist es unsolidarisch, in Corona-Zeiten Shoppen oder Skifahren zu gehen? Oder schaden wir dem notleidenden Gewerbe, wenn wir dies nicht tun? Ist es in Ordnung, die bloss «empfohlenen» Massnahmen des Bundes nicht einzuhalten? Wie weit darf und kann Eigenverantwortung gehen? Wir sind gespannt auf deine Überlegungen zu diesen Themen. Was meinst du dazu?
Erstellt von Ann-Kathrin Amstutz