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8. September 2021

Braucht es die «Ehe für alle»?

In zweieinhalb Wochen finden die nächsten Abstimmungen statt. Nebst der umstrittenen «99%-Initiative» kommt auch die «Ehe für alle» vor die Schweizer Stimmbevölkerung. Die Gesetzesänderung verlangt, dass in der Schweiz künftig auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen – und sorgt damit für Diskussionsstoff. Discuss it hat mit Marc Rüdisüli (Vizepräsident Junge Mitte Schweiz) und Timmy Frischknecht (Junge EDU Kt. TG) über die wichtigsten Punkte der Vorlage gesprochen.

Die Mühlen der Schweizer Politik mahlen langsam. Bereits 2013 hat die Grünliberale Nationalrätin Kathrin Bertschy die parlamentarische Initiative «Ehe für alle» eingereicht. Die Initiative verlangte, alle rechtlichen Lebensgemeinschaften für alle Paare zu öffnen – unabhängig von deren Geschlecht oder sexueller Orientierung. Damit wäre es auch gleichgeschlechtlichen Paaren künftig erlaubt gewesen, eine Ehe zu schliessen. Nachdem die Initiative in den darauffolgenden Jahren vom Bundesrat sowie von National- und Ständerat behandelt worden ist, haben beide Kammern das Gesetz im Dezember 2020 angenommen. Vier Monate später ist von einem überparteilichen Komitee bestehend hauptsächlich aus Mitglieder:innen der EDU und der SVP allerdings erfolgreich das Referendum gegen die Vorlage eingereicht worden (siehe dazu auch unseren Blogartikel). Am 26. September kommt die «Ehe für alle» deshalb vor die Schweizer Stimmbevölkerung – diese hat nun das letzte Wort, ob die Ehe nun tatsächlich auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll.

Ehe für alle oder eingetragene Partnerschaft?

Zum aktuellen Zeitpunkt kann in der Schweiz eine Ehe nur zwischen einem mündigen Mann und einer mündigen Frau geschlossen werden (mündig bedeutet, dass jemand volljährig und urteilsfähig ist). Für Partner:innen desselben Geschlechts besteht hingegen die Möglichkeit, eine eingetragene Partnerschaft einzugehen. Diese ist der Ehe in vielen Punkten gleichgestellt, allerdings nicht in allen. So können gleichgeschlechtliche Paare beispielsweise keine Kinder adoptieren, haben keinen Zugang zur Fortpflanzungsmedizin oder können nicht von der erleichterten Einbürgerung profitieren. Diese Lücken in der Gleichstellung sollen gemäss Marc Rüdisüli (Vizepräsident Junge Mitte Schweiz) dank der «Ehe für alle» nun geschlossen werden: «Ich möchte in einer Schweiz leben, in der heterosexuelle und gleichgeschlechtliche Paare einander gleichgestellt sind. In gewissen Bereichen sind sie das mit der eingetragenen Partnerschaft allerdings noch nicht. […] Deshalb braucht es diese Vorlage unbedingt.»

Timmy Frischknecht (Junge EDU Kt. TG) widerspricht allerdings: «Ich glaube, es ist wichtig zu unterscheiden, wo diese beiden Formen gleich sind und wo nicht. Wo es keinen Unterschied macht, ob ein Paar hetero- oder homosexuell ist, sollen diese beiden Rechtsformen einander auch gleichgestellt sein.» So würde also auch Timmy Frischknecht der erleichterten Einbürgerung oder der Gleichstellung im Erbrecht zustimmen. Wenn es allerdings um Kinder geht, findet er die Unterscheidung zwischen den beiden Lebensformen relevant: «Aus einer der beiden Beziehungsformen kann ein Kind entstehen, aus der anderen nicht. Deshalb sollen die Ehe und die eingetragene Partnerschaft als zwei [unterschiedliche] Formen vorhanden bleiben.»

Zugang zur Fortpflanzungsmedizin

Ein wichtiger Unterschied zwischen der Ehe und der eingetragenen Partnerschaft ist der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin. Während verheiratete Paare in der Schweiz beispielsweise von einer Samenspende profitieren können, bleibt diese Technologie den eingetragenen Partner:innen verwehrt. Würde die Initiative angenommen, hätten künftig auch Frauen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung Zugang zur Fortpflanzungsmedizin, respektive zu einer Samenbank.

Marc Rüdisüli befürwortet diese Veränderung, da sie der verfassungsmässigen Gleichstellung aller Schweizer:innen entspräche. Über Fortpflanzungsmedizin könne eine Grundsatzdiskussion geführt werden, wenn sie aber zur Verfügung gestellt würde, dann solle das für alle Paare gelten: «Es kann nicht sein, dass bei einem Paar bestehend aus Mann und Frau die Fortpflanzungsmedizin verwendet wird, nicht aber bei den anderen Paaren. […] Unsere Bundesverfassung sagt, dass alle Schweizer:innen ein Recht auf Ehe und Familie haben. Die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare verwirklicht dieses Grundrecht. Diese Gleichstellung ist einfach überfällig.»

Timmy Frischknecht wirft allerdings ein, dass die «Ehe für alle» nicht mehr Gleichheit, sondern mehr Ungleichheit schaffen würde. Zugang zur Fortpflanzungsmedizin hätten nämlich nur weibliche Paare, während männliche Paare keinen eigenen Nachwuchs zeugen könnten, da die Leihmutterschaft in der Schweiz verboten ist. «Wir würden mit diesem Gesetz eine Diskriminierung schaffen. Lesbischen Paaren würde man einen unerfüllten Kinderwunsch erfüllen, schwulen Paaren hingegen nicht.»

Das Kindeswohl im Fokus

Die zweite grosse Veränderung, die die «Ehe für alle» mit sich bringen würde, ist, dass gleichgeschlechtliche Paare auch Kinder adoptieren dürften. Zusammen mit der Fortpflanzungsmedizin ist dies meist der zentrale Streitpunkt in der Debatte um die «Ehe für alle». Dabei wird die Frage aufgeworfen, welche Art der Familie für ein Kind die beste ist und in welcher Familienform das Kindeswohl gefährdet wäre.

Für Timmy Frischknecht ist klar, in welcher Familienkonstellation ein Kind am besten aufgehoben ist: «Für das Kind ist es das Beste, wenn es bei seinem leiblichen Vater und seiner leiblichen Mutter aufwachsen kann.» Er befürchtet, dass einem Kind gleichgeschlechtlicher Eltern wichtige Bezugspersonen fehlen würden: «Mit der «Ehe für alle» hätte ein Kind nicht mehr die Möglichkeit, einen Vater und eine Mutter zu haben. […] Dabei ist es für mich als Mann beispielsweise wichtig zu sehen, wie mein Vater ist und wie er funktioniert.»

Marc Rüdisüli widerspricht: «Auch heute gibt es viele Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen.» Ein Kind könne gemäss ihm auch mit gleichgeschlechtlichen Eltern Bezugspersonen beider Geschlechter haben, beispielsweise in der Form von Verwandten, Nachbar:innen oder Freund:innen. Das Geschlecht der Eltern hält er beim Kindeswohl deshalb für nebensächlich. «Die Entwicklung der Kinder hängt nicht von der Familienkonstellation ab. Es geht um die Fürsorge und die Zuwendung, die ein Kind in der Familie bekommt. Und dabei können gleichgeschlechtliche Paare genauso gute Eltern sein wie heterosexuelle Paare.»

Die symbolische Bedeutung

Nebst all diesen gesetzlichen Veränderungen, die die «Ehe für alle» mit sich bringen würde, hat der Volksentscheid am 26. September auch eine symbolische Bedeutung. Für Timmy Frischknecht würde eine Annahme der Vorlage der symbolischen Tradition der Ehe widersprechen: «Der Ehebegriff stammt aus einer langen christlichen Tradition. Diese Tradition ist bei homosexuellen Paaren nicht da. Wir können aber eine Tradition nicht einfach mit einem Gesetzesentscheid herbeiführen. In unserer Rechtsprechung sollte nicht einfach Symbolpolitik betrieben werden.»

Für Marc Rüdisüli hat die Ehe hingegen eine andere symbolische Bedeutung: «Eine Ehe ist ein Bekenntnis der Liebe. Man verpflichtet sich einer Person und möchte mit dieser durchs Leben gehen. Das sollte nicht nur heterosexuellen Paaren vorbehalten sein. Homosexuelle Paare haben genau dieselben Gefühle und möchten ihren Weg ebenfalls zusammen gehen. Deshalb ergibt es keinen Sinn, hier einen Unterschied zu machen.»

Und was findest du?

Ist die «Ehe für alle» eine längst fällige Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare oder ist sie in Anbetracht der eingetragenen Partnerschaft gar nicht nötig? Diskutier mit uns in den Kommentaren oder auf den sozialen Medien!

Alle Aussagen der in diesem Artikel vorkommenden Personen findest du im Video über diesem Beitrag.




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Erstellt von Alina Zumbrunn