1. Dezember 2021
3½ Fragen an Swisstransplant: Wenn tote Menschen Leben retten
In der Schweiz sterben jährlich über 100 Menschen, weil sie zu lange auf ein neues Organ warten mussten – trotz grundsätzlich hoher Bereitschaft der Schweizer:innen, die eigenen Organe im Falle eines Hirntods zu spenden. Discuss it hat mit PD Dr. med. Franz Immer von Swisstransplant über die aktuelle Situation sowie die Änderungen am Transplantationsgesetz gesprochen.
In fast ganz Europa gilt heutzutage die sogenannte Widerspruchslösung, was die Organspende betrifft. Das heisst: Sofern sich Europäer:innen nicht zu Lebzeiten explizit gegen eine Organspende ausgesprochen haben, dürfen ihre Organe nach ihrem Tod entnommen werden. Nicht so in der Schweiz: Hierzulande kennen wir aktuell noch die erweiterte Zustimmungslösung, wonach nur Organe transplantiert werden dürfen, wenn sich die Verstorbenen zu Lebzeiten aktiv für eine Organspende ausgesprochen haben oder die Angehörigen der Verstorbenen der Transplantation zustimmen. Doch das soll sich bald ändern. Bundesrat und Parlament haben einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» beschlossen, die beide einen Systemwechsel von der Zustimmungs- hin zu Widerspruchslösung anstreben. Diese Veränderung soll die Wartezeiten auf ein neues Organ verkürzen und dadurch – so die Räte und Rätinnen – Menschenleben retten.
Herr Franz Immer, wieso ist die aktuelle Situation hinsichtlich der Organspende problematisch?
Über 1’400 Menschen warten heute auf ein Spenderorgan in der Schweiz. Die Zahl der gespendeten Organe reicht nicht aus, um alle Patientinnen und Patienten transplantieren zu können. So sterben heute jede Woche zwei Menschen auf der Warteliste und viel zu oft werden Patientinnen und Patienten in der letzten Minute noch schwerkrank transplantiert, was selbst bei einer erfolgreichen Transplantation eine lange Erholungszeit braucht.
Dabei liegt es nicht an der Bereitschaft der Schweizer Bevölkerung Organe zu spenden. Wir wissen aus Umfragen, dass knapp 80% der Bevölkerung grundsätzlich bereit wären Organe zu spenden. Leider halten weniger als 20% ihren Entscheid fest, in weiteren rund 20% kennen die Angehörigen den Wunsch des Verstorbenen. Das heisst, dass in mehr als der Hälfte der Fälle der Wunsch des Verstorbenen nicht bekannt ist. Die Angehörigen müssen in dieser Situation auf der Intensivstation stellvertretend im Sinne des Verstorbenen entscheiden. Ärztinnen und Ärzte melden uns zurück, dass es in dieser schwierigen Situation, wo man mit dem Tod eines Angehörigen konfrontiert wird, für viele Familien unmöglich ist, einen derartigen Entscheid zu fällen, wenn man zeitlebens nie darüber gesprochen hat. Dies führt dazu, dass die Ablehnungsrate in der Schweiz bei über 50% liegt und somit eine der höchsten Ablehnungsraten in Europa ist. [Eine Ablehnungsrate von 50% heisst, dass von der Hälfte der Verstorbenen, die als Organspender:in infrage kommen würde, die Organspende von den Angehörigen abgelehnt wird.]
Was möchte der indirekte Gegenvorschlag zur Organspende-Initiative verbessern?
Die Initiative, wie auch der indirekte Gegenvorschlag, verlangen die Einführung der «erweiterten Widerspruchslösung». Wer nicht Organe oder Gewebe spenden möchte, soll dies im Nationalen Organspenderegister festhalten oder zumindest seine Angehörigen darüber informieren. Liegt kein Eintrag im Organspenderegister vor, haben die Angehörigen ein Vetorecht, wenn sie wissen oder schon nur vermuten, dass der Verstorbene nicht hätte spenden wollen. Es ist also keine automatische Organspende, da sowohl der Verstorbene zeitlebens wie auch die Angehörigen ein Vetorecht haben.
Im März 2019 wurde die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» von der Junior Chamber International (JCI) der Riviera eingereicht, welche den Systemwechsel von der Zustimmungs- hin zur Widerspruchslösung herbeiführen will.
Die Revision des Transplantationsgesetzes im Sinne der Volksinitiative würde auf der «vermuteten Zustimmung» beruhen: Hat sich eine Person zu Lebzeiten nicht aktiv gegen eine Transplantation ihrer Organe geäussert, dürfte künftig davon ausgegangen werden, dass sie einer Spende nach dem Tod nicht widersprochen hätte.
Nachdem Bundesrat und Parlament einen indirekten Gegenvorschlag beschlossen haben, wurde die Volksinitiative bedingt zurückgezogen. Der Rückzug wird folglich erst dann wirksam, wenn der indirekte Gegenvorschlag in Kraft tritt. Sollte kein Referendum gegen den indirekten Gegenvorschlag ergriffen werden (Frist: 20. Januar 2022), tritt das neue Gesetz in Kraft.
Bundesrat und Parlament waren beide der Meinung, dass eine Revision des Schweizer Transplantationsgesetzes dringend nötig ist, daher haben sie einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» ausgearbeitet. Dieser Gegenvorschlag sieht ebenfalls eine Widerspruchslösung vor. Diese besagt, dass Organe von verstorbenen Menschen gespendet werden dürfen, wenn sie sich zu Lebzeiten nicht aktiv dagegen gewehrt haben.
Im Vergleich zur Volksinitiative fordern sie aber die «erweiterte Widerspruchslösung». Das heisst, dass Angehörige in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. Hat die verstorbene Person zu Lebzeiten ihren Willen bzgl. der Organspende nicht dokumentiert, werden wie bisher nach ihrem Tod die Angehörigen zum mutmasslichen Willen der verstorbenen Person befragt. Um den Willen auf einfache Art zuverlässig festzuhalten, soll ein Register geschaffen werden.
Reicht der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments Ihrer Meinung nach, um das Problem zu beheben? Warum, warum nicht?
Der indirekte Gegenvorschlag fand eine sehr hohe Zustimmung in National- und Ständerat. Swisstransplant unterstützt, wie zahlreiche weitere Fachorganisationen im Gesundheitswesen, diese Gesetzesänderung. Ausser Deutschland und Dänemark kennen heute alle westeuropäischen Länder die erweiterte Widerspruchslösung. Die Ablehnungsrate liegt in diesen Ländern mit 20% deutlich tiefer und somit ist die Zahl der Organ- und Gewebespenden deutlich höher. Das gibt den Menschen auf der Warteliste die Chance und Hoffnung auf die rechtzeitige Zuteilung des Organs und somit das Wiedererlangen einer neuen Lebensqualität.
Was wollten Sie immer schon mal zu diesem Thema sagen, was zu wenig erwähnt wird?
Es ist wichtig zu wissen, dass das Thema Organ- und Gewebespende uns alle angeht. Es gibt kaum medizinische Gründe (ausser ein schweres Krebsleiden mit Ablegern), die eine Organspende verunmöglichen. Eine Organspende ist bis ins hohe Alter möglich. Der Entscheid im Organspenderegister schafft Sicherheit und Klarheit, entlastet die Angehörigen. Ein „Ja“ zur Organspende kann Leben retten.
Erstellt von Sophie Ruprecht