9. September 2020
Vaterschaftsurlaub: Ein weiterer Schritt in Richtung Gleichstellung?
Bei der Debatte über die Einführung eines zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs haut es laut Plakat der Gegner der Vorlage «so manchen den Nuggi raus». Ebenso ist es geschehen bei der sehr engagiert geführten Podiumsdiskussion an der Kantonsschule Stadelhofen.
Beim Blick in die Podiumsrunde fällt sofort ins Auge: Die vier noch kinderlosen, diskutierenden Politiker_innen sind in der Altersgruppe, in der sie das Thema Vaterschaftsurlaub in Zukunft nicht nur politisch, sondern auch persönlich beschäftigen könnte. Es gilt also für alle Anwesenden im Saal der Kantonsschule Stadelhofen die gleiche Ausgangslage. Ob Schüler oder Politikerin, der Abstimmungsentscheid über die Einführung eines zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs vom 27. September wird sie künftig im Falle einer Elternschaft betreffen.
Entsprechend gross ist das Interesse bei den rund 70 Schüler_innen, die sich zum Podium eingefunden haben. Sie erleben von Beginn weg eine emotionale Debatte. In seinem ersten Votum erklärt Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz, dass der Vaterschaftsurlaub uns allen Geld aus den Taschen ziehen würde. «Das tut allen im Portemonnaie weh: den Arbeitnehmenden ebenso wie den KMU.» In der Schweiz hätten alle Arbeitnehmenden vier bis sechs Wochen Ferien, welche sie bei der Geburt eines Kindes beziehen könnten. «Deswegen brauchen wir die teure staatliche Lösung gar nicht», findet Müller.
«Gleich lange Spiesse für alle»
Das sieht Sandro Trapani, Vorstandsmitglied SP Stadt Zürich (Kreis 7+8), völlig anders. Er weist darauf hin, dass die normalen Ferien dem Zweck der Erholung dienen sollten. «Nach der Geburt eines Kindes kann von Erholung keine Rede sein.» Der Vaterschaftsurlaub sei notwendig, um Ungleichheiten zu beseitigen. «Aktuell finanzieren viele Grossunternehmen einen Vaterschaftsurlaub aus der eigenen Tasche. Doch die volkswirtschaftlich relevanten KMU können sich dies schlicht nicht leisten.» So seien die KMU als Arbeitgeber viel weniger attraktiv – nun gelte es, gleich lange Spiesse für alle zu schaffen.
Michael Saxer, Vorstandsmitglied FDP Zürich (Kreis 9), lässt Trapanis Argument nicht gelten. «Statt Ungleichheiten zu beseitigen, schafft der Vaterschaftsurlaub mehr Unfairness.» Paare, welche sich ein Kind nicht leisten könnten, würden durch die zusätzlichen Abgaben (50 Rappen pro 1000 Franken Einkommen [Anmerkung der Redaktion]) stärker belastet. «Zudem stellt die Absenz der Väter gerade die KMU vor Schwierigkeiten: Wenn im Betrieb jemand fehlt, muss derselbe Workload auf weniger Personen übertragen werden.»
«Vaterrolle übernehmen dauert länger als zwei Wochen»
Diese Aussage nimmt Selina Walgis, Gemeinderätin Grüne in der Stadt Zürich, als Steilpass. Genau wegen dieser Überlegung würden junge Frauen bei der Stellensuche benachteiligt. «Mit der aktuellen Situation kann es sich kein KMU leisten, eine junge Frau einzustellen, weil das im Falle einer Mutterschaft sehr teuer würde», bemerkt Walgis. Der Vaterschaftsurlaub sei ein erster Schritt, um diese Ungleichheit zu beseitigen. Ganz grundsätzlich findet Walgis es schade, dass wir heute noch über einen Vaterschaftsurlaub diskutieren müssen: «Das zeigt, dass wir in Bezug auf die Gleichstellung nicht so weit sind, wie wir manchmal denken.»
Da schaltet sich Matthias Müller ein. Der Vaterschaftsurlaub zementiere alte Rollenbilder, weil dem 14-wöchigen Mutterschaftsurlaub bloss zwei Wochen für den Vater gegenübergestellt würden. «Was wir brauchen, ist ein Elternurlaub von 16 Wochen. Diese Zeit sollen die Eltern frei untereinander aufteilen können.» Es sei illusorisch, dass zwei Wochen Vaterschaftsurlaub eine traditionelle Rollenverteilung beseitigen würden: Es gälte, die Vaterrolle richtig auszufüllen, und das dauere viel länger als zwei Wochen – nämlich mindestens 18 Jahre, wenn nicht ein ganzes Leben lang.
Die Schweiz, ein familienpolitisches Entwicklungsland?
Discuss it-Moderator Reto Mitteregger fragt in die Runde, ob die Schweiz als einziges Land in Europa ohne Vaterschafts- oder Elternurlaub denn nicht ein familienpolitisches Entwicklungsland sei. Michael Saxer bestreitet dies. «Ich glaube nicht, dass es die Familien in Frankreich oder Deutschland besser haben.» Matthias Müller zählt ergänzend auf, von welchen Vorteilen Familien in der Schweiz profitieren würden: Sozialversicherungen, verbilligte Krankenkassenprämien und Krippenabzüge. Sandro Trapani unterbricht ihn mit dem Einwurf, dass die bürgerliche Seite diese immer kürzen wolle. Darauf entbrennt ein teilweise unverständliches Wortgefecht zwischen Müller und Trapani, in das Discuss it-Moderator Reto Mitteregger schliesslich eingreift.
«Gleichstellung funktioniert so lange, bis ein Kind da ist»
Selina Walgis lenkt die Debatte zurück auf die Gleichstellungsfrage. In der Realität funktioniere die Gleichstellung so lange, bis ein Kind da sei. «Dann ist es die Mutter, die sich um das Kind kümmert.» Bloss drei Tage dauere heutzutage der Spitalaufenthalt nach einer Geburt, dann sei die Mutter mit dem Kind alleine zu Hause. «Der Vaterschaftsurlaub dient also auch dazu, dass die Mutter nach der Geburt entlastet wird und sich erholen kann.» Dem pflichtet Müller bei: Der Kerngedanke am Urlaub sei, dass sich die Mutter nach der Geburt erholen kann. Doch dies sei eben nur mit einem Elternurlaub zu gewährleisten.
«Vaterschaftsurlaub verhindert fortschrittlichen Elternurlaub»
Es folgen einige Fragen der Schüler_innen. Eine davon richtet sich direkt an die beiden Freisinnigen Müller und Saxer, welche anfangs auch mit den Kosten gegen den Vaterschaftsurlaub argumentiert hatten. Simon (18) fragt, warum dieses Kostenargument überhaupt ziehen sollte, wenn die Freisinnigen eine Elternzeit von 16 Wochen befürworten würden – bezüglich Kosten kämen 16 Wochen auf dieselbe Summe heraus wie die 14 Wochen für die Mutter plus 2 Wochen für den Vater zusammen. Michael Saxer antwortet indirekt, dass ein Durchkommen des Vaterschaftsurlaubs negative Effekte auf die gesamte Elternzeit-Debatte hätte: «Damit wäre das Thema für mehrere Jahre erledigt und jegliche Bemühungen in diese Richtung beerdigt.»
Mehr Live-Debatten an der Schule
Zum Schluss der Debatte stimmen die Schüler_innen per Handy über den Vaterschaftsurlaub ab. Als Moderator Reto Mitteregger die Ergebnisse enthüllt, bricht der Saal in Applaus aus. Das Resultat hätte nicht deutlicher sein können: Von 53 abgegebenen Stimmen sind 53 für den Vaterschaftsurlaub. Nicht eine Gegenstimme, nicht eine Enthaltung. Das Ergebnis scheint niemanden zu überraschen. So sagt Sarah (18) zu Discuss it: «Die Gegenseite hatte an unserer Schule einen schweren Stand.» Obwohl ihre Meinung bereits vor der Debatte gemacht war, findet sie, dass sich die Politiker_innen gut geschlagen hätten. Dem pflichtet Elena (17) bei: «Ich habe heute zum ersten Mal von der Kontra-Seite akzeptable Argumente gehört. Beide Seiten haben schlüssig argumentiert.» Das sei sehr spannend gewesen. So findet Elena, es brauche mehr solche Live-Debatten an der Schule.
Dafür setzt sich Discuss it ein – dass hoffentlich auch an deiner Schule über den Vaterschaftsurlaub und viele weitere spannende Themen eine Podiumsdiskussion stattfinden kann.
Erstellt von Ann-Kathrin Amstutz