Wie möchte die Schweizer Bevölkerung Mensch und Umwelt schützen?
In weniger als drei Wochen stimmt die Schweiz über eine Initiative ab, die schon seit Jahren für erhitzte Gemüter sorgt: die Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt», umgangssprachlich oft auch «Konzernverantwortungsinitiative» genannt. Bereits im Oktober 2016, also vor über vier Jahren, wurde die Initiative eingereicht und nun kommt sie nach langem Ausarbeiten vor die Schweizer Stimmbevölkerung. Discuss it fasst zusammen, was Du über die Vorlage wissen musst.
Menschenrechte und Umweltschutz sind wichtig – darüber sind sich in der Schweiz wohl alle Parteien einig. Deshalb hat sich die Schweiz in den vergangenen Jahren dafür eingesetzt, dass diese Prinzipien auch international implementiert werden. So hat sie sich beispielsweise finanziell sowie personell an der Ausarbeitung der «Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte» in der UNO beteiligt. Diese Leitprinzipien verlangen von den Ländern einen sogenannten «Smart Mix», eine Mischung aus internationalen und nationalen Massnahmen, wobei sich Gesetze und freiwillige Instrumente ergänzen sollen.
Der Bundesrat will diese UNO-Leitprinzipien in der Schweiz im Nationalen Aktionsplan 2020 – 2023 umsetzen und fokussiert dabei auf freiwillige Massnahmen. Die Unternehmen sollen auf die Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards sensibilisiert werden, indem sie zum Beispiel in der Pflicht sind, Berichte über deren Einhaltung im Ausland zu verfassen. Zudem können Unternehmen für selbst verursachte Schäden haftbar gemacht werden, wobei der Fall im betroffenen Land und nach dortigem Recht vollzogen wird.
Was die Vorlage will
Den Initiant_innen der Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» gehen diese Schritte nicht weit genug. Gemäss ihnen fehle es in der Schweiz an verbindlichen Massnahmen. Deshalb wollen sie durch die Initiative unter anderem eine Sorgfaltsprüfung einführen. Mit der Sorgfaltsprüfung fordern sie, dass international tätige Unternehmen mit Sitz in der Schweiz die international anerkannten Menschenrechte und Umweltstandards auch im Ausland umsetzen und deren Einhaltung regelmässig überprüfen. Die realen und potenziellen Auswirkungen ihrer Unternehmenstätigkeit sollen dabei identifiziert werden, sodass sie Schäden verhindern und Verletzungen beenden können. Über die dadurch getroffenen Massnahmen und die generelle Einhaltung der Menschenrechts- und Umweltstandards sollen die Unternehmen ausserdem regelmässig Bericht erstatten. Diese Sorgfaltsprüfung würde dabei nicht nur unternehmensintern, sondern auch für sämtliche Geschäftsbeziehungen – umgangssprachlich also für die gesamte Lieferkette – gelten.
Nebst dieser Sorgfaltsprüfung führt die Initiative als zweiten zentralen Punkt eine Haftung ein. Richtet ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz im Ausland einen Schaden an, so soll der Schadensfall bei einer Klage vor einem Schweizer Gericht und nach Schweizer Recht beurteilt werden können. Das würde aber nicht nur für die Unternehmen selbst, sondern auch für ihre Tochterunternehmen sowie für wirtschaftlich abhängige Zulieferer gelten; auch für Schäden, die von diesen kontrollierten Unternehmen verursacht würden, soll das Schweizer Unternehmen haftbar sein. Davon ausgenommen sind die Unternehmen allerdings dann, wenn sie beweisen können, dass sie ihre Sorgfaltsprüfungspflicht wahrgenommen haben.
Die Initiative beinhaltet zum jetzigen Zeitpunkt noch keinen konkreten Gesetzestext, dieser wird im Falle einer Annahme erst noch vom Parlament ausgearbeitet. Das führt zu verschiedenen Unsicherheiten darüber, wie die Initiative dann konkret umgesetzt würde. Zum Beispiel ist unklar, inwiefern diese Initiative auch kleinere und mittlere Unternehmen in der Schweiz betrifft. Hierzu spezifiziert der Abstimmungstext bloss: «[B]ei der Regelung der Sorgfaltsprüfungspflicht nimmt der Gesetzgeber Rücksicht auf die Bedürfnisse kleiner und mittlerer Unternehmen, die geringe derartige Risiken aufweisen.» Unklar bleibt, was es bedeutet, Rücksicht auf die Bedürfnisse der KMU zu nehmen, und inwiefern eine mögliche Haftung auch auf KMU zutrifft.
Was in anderen Ländern gilt
«Die neuen Haftungsregeln wären in dieser Form international einmalig», so wird die Volksinitiative im Abstimmungsbüchlein eingeführt. Trotzdem gibt es im Ausland Länder, die bereits über ähnliche Gesetze verfügen und die sich mit der Schweiz vergleichen lassen. In den Niederlanden beispielsweise muss jedes Unternehmen, das dort Waren oder Dienstleistungen verkaufen will, zeigen, ob in seiner Lieferkette Kinderarbeit vorkommt. Wenn ein Unternehmen von solcher Kinderarbeit profitiert, macht es sich strafbar und muss mit Bussen oder gar Gefängnis rechnen.
In Frankreich gibt es ein ähnliches Gesetz, das für Konzerne mit über 5’000 Mitarbeitenden gilt. Gemäss diesem Gesetz müssen die Unternehmen Berichte verfassen und haften für Schäden, die sie oder ihre Zulieferer verursachen. Wer Menschenrechte, Korruption oder Umweltschäden in der Lieferkette zulässt, muss mit Bussen rechnen. Auch in Grossbritannien gilt ein ähnliches Gesetz für Unternehmen, die im Ausland mehr als 40 Millionen Franken Umsatz machen. Sie müssen zeigen, wie sie Menschenhandel und Zwangsarbeit in ihrer Lieferkette vorbeugen. Ausserdem kam es sowohl in Frankreich wie auch in Grossbritannien schon zu Anklagen solcher Firmen wegen Schäden, die sie oder ein Tochterunternehmen im Ausland verursacht haben. In Kanada haben Gerichte ebenfalls schon mehrfach Klagen gegen ausländische Tochterfirmen kanadischer Konzerne zugelassen. Zudem werden in Deutschland und der EU zurzeit solche Gesetze für die Konzerne entwickelt, sind aber noch nicht vollständig ausgearbeitet.
Was die Befürworter_innen sagen
«Die Initiative fordert etwas, das überall im Alltag gilt: Der Grundsatz, dass alle für ihre Handlungen geradestehen müssen», fasst Dick Marty, Co-Präsident der «Konzernverantwortungsinitiative», das Begehren der Vorlage zusammen. Die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards im Ausland sei fundamental. Wer sie nicht einhält, solle nicht durch einen Wettbewerbsvorteil belohnt, sondern nach Schweizer Recht verurteilt und bestraft werden.
Weiter argumentieren die Befürworter_innen, dass die bisherige Lösung mit dem Fokus auf Selbstregulierung nicht funktioniere. Das Verfassen eines Berichts ändere nichts am Verhalten der Unternehmen, wenn Verletzungen von Menschenrechts- und Umweltstandards keine Konsequenzen haben. «Die Gegner_innen der Initiative behaupten, dass die Konzerne das Problem selbst lösen können, also mittels Selbstregulierung. Selbstregulierung funktioniert überhaupt nicht», so Dick Marty. Die Schweiz solle in diesen Bereichen mit verpflichtenden Gesetzen nun eine internationale Vorbildfunktion einnehmen. Denn auch die anderen Länder seien nicht untätig und die Initiant_innen befürchten, dass die Schweiz ansonsten bald den internationalen Standards hinterherhinken könnte.
Was die Gegner_innen sagen
Die Gegner_innen der Initiative, zu denen auch der Bundesrat sowie Stände- und Nationalrat zählen, argumentieren hingegen, dass die vorgeschlagenen Massnahmen internationale Standards überschreiten würden. «Kein anderes Land auf der Welt kennt derart weitgehende Regelungen», so Matthias Müller vom Komitee «NEIN zur extremen UVI». Die in der Initiative vorgeschlagenen Massnahmen würden dadurch den Wirtschaftsstandort Schweiz schwächen, Unternehmen könnten ins Ausland abwandern und Arbeitsplätze sowie die Wohlfahrt in der Schweiz gefährden. Zudem schade es auch den Entwicklungsländern, wenn die Unternehmen dort aus Angst vor Klagen weniger investieren, da sie den betroffenen Ländern dadurch wichtige Ressourcen entziehen würden.
Zudem lehnen die Gegner_innen ab, dass Unternehmen für andere Parteien als sich selber haften sollen. Matthias Müller findet dazu: «Die Initiative ist extrem und gefährlich für unser Land. Sie verlangt eine international einmalige Haftung für unsere Unternehmen.» Diese Haftung mache die Unternehmen nicht nur für Fehler anderer verantwortlich, sie führe auch vor den Schweizer Gerichten zu komplexen Schadensfällen. Schweizer Richter_innen müssten dann Schäden von ausländischen Unternehmen im Ausland beurteilen, was die Schweizer Gerichte überfordern würde.
Was bei Ablehnung der Initiative passiert
National- und Ständerat haben einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen» ausgearbeitet, der auch vom Bundesrat unterstützt wird. Dieses Gesetz tritt automatisch in Kraft, wenn die Initiative abgelehnt wird und kein Referendum dagegen ergriffen wird. Der Gegenvorschlag orientiert sich an der Berichterstattungspflicht, wie sie seit 2016 in der EU gilt, und will den Unternehmen nebst einer Pflicht zur Berichterstattung auch gewisse Sorgfaltspflichten auferlegen. Berichte über die Risiken ausländischer Geschäftstätigkeiten für Mensch und Umwelt sollen Transparenz schaffen, zudem solle für Kinderarbeit und Konfliktmineralien eine Sorgfaltsprüfung durchgeführt werden. Wer gegen diese Pflichten verstösst, solle mit Bussen bis zu 100’000 Franken bestraft werden.
Der Gegenvorschlag lehnt es hingegen ab, die Unternehmen für eigene Schäden oder Schäden durch kontrollierte Unternehmen vor Schweizer Gerichten haftbar zu machen. Unternehmen sollen weiterhin lediglich für sich selbst und vor Ort nach dem dort geltenden Recht haftbar sein. Doch auch wenn dieser Gegenvorschlag im Sinne der Initiant_innen sein könnte, lehnen jene ihn entschieden ab. Denn: Der Gegenvorschlag sei eine reine Alibi-Übung und ziehe keine Konsequenzen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden nach sich. Die Haftung müsse unbedingt Teil des Initiativtexts bleiben, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
Du entscheidest!
Sollen Unternehmen mit Sitz in der Schweiz auch für Tätigkeiten von sich und kontrollierten Unternehmen im Ausland haften? Oder führt die Initiative bloss zu viel Bürokratie und Rechtsunsicherheit? Du entscheidest mit Deiner Stimme am 29. November 2020!
Alle Aussagen der in diesem Artikel vorkommenden Personen findest du im Video über diesem Beitrag.
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